Armut als das Fehlen des Überflüssigen

Landschaft des Inselarchipels Solentiname © Bistum Speyer

Solentiname. Bis vor 50 Jahren kannte selbst in Nicaragua diesen Ort fast niemand. Auf diesem Archipel mit 38 Inseln im See von Nicaragua lebten 1.000 Menschen – fast ausnahmslos Bauern. Die meisten lebten im Elend. Ihnen fehlte es am Notwendigsten. Viele ohne Schulbildung. Hohe Kindersterblichkeit. Perspektivlosigkeit.

1966 kam Ernesto Cardenal, ein junger Priester aus Nicaragua, der früher bei den Trappisten war. An einem möglichst abgeschiedenen und nur schwer zugänglichen Ort gründete er eine kleine Kommunität. Sonntags feierte er Gottesdienste mit den Menschen der Inseln. Anstatt ihnen eine Predigt zu halten, lud er alle Anwesenden ein, nach dem Verlesen des Evangeliums der Gemeinschaft die eigenen Gedanken zum Evangelium mitzuteilen. Die Menschen teilten so ihre Gedanken zur frohen Botschaft Jesu. Es passierten wundervolle Dinge: die Bauern und Bäuerinnen nahmen ihren Alltag mit in den Gottesdienst. Ihre Alltagsfragen wurden zum Gottesdienst – und der Gottesdienst antwortete auf diese, ihre Fragen des Alltags. Glaube und Leben verschmolzen miteinander.

Ihre Alltagsfragen wurden zum Gottesdienst – und der Gottesdienst antwortete auf diese, ihre Fragen des Alltags.

Mündige Christenmenschen

Die einfachen Menschen wurden ganz ernst genommen. So wurden sie angeleitet zu mündigen Christenmenschen. Zu Menschen, die in der frohen Botschaft Jesu Antworten auf ihre Lebenssituation fanden. Sie lernten, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Auf Anregung des nicaraguanischen Malers Roger Perez de la Rocha und von Ernesto Cardenal begannen sie in bunten Farben in naiver Kunst zu malen. Diese Kunst wurde berühmt und die Erlöse halfen den Menschen, dem Elend zu entfliehen. Sie konnten einfache Steinhäuser bauen und sich alles Lebensnotwendige leisten. Sie leben nun in einer einfachen Armut. Armut verstanden als das Fehlen des Überflüssigen.

Diese auf der frohen Botschaft fußende Entwicklung der Menschen hier auf Solentiname hat in den 70er Jahren auch sehr viele Menschen in Europa fasziniert. Wir dürfen diesem kleinen Wunder nun vor Ort nachspüren. Maria, unsere Herbergsmutter, war sehr nah an Ernesto Cardenal in dessen 13 Jahren auf Solentiname dran. Sie erzählt uns, wie sich alles entwickelt hat, wie die Menschen auf der Insel erwachten, wie eine Begeisterung entstand, wie der Glaube der Menschen sich weitete: Vorher beschränkter er sich auf Andachtsübungen, jetzt hatten sie gelernt, dass ihr Glauben ihr Leben umfassen sollte.

Unsere Gruppe wohnt bei Mariíta, einer Campesina, die zur Gemeinschaft Ernesto Cardenals in Solentiname gehörte. © Bistum Speyer

Unsere Gruppe wohnt bei Mariíta, einer Campesina, die zur Gemeinschaft Ernesto Cardenals in Solentiname gehörte. © Bistum Speyer

Vom Elend in eine menschenwürdige Armut

1978 musste Ernesto Cardenal aufgrund politischer Verhältnisse die Inseln verlassen. Nach der Revolution 1979 wurde er Kulturminister. Andere in der Gemeinschaft von Solentiname bekamen ebenfalls verantwortliche Posten. Die christliche Gemeinschaft von Solentiname zerfiel. Uns bewegt, dass dieser tolle Prozess keine Kontinuität erfahren hat.

Dauerhaft aber bleibt für Solentiname festzustellen, dass sich aufgrund dieser geistlichen Blüte die Lebensbedingungen verbessert haben: vom Elend in eine menschenwürdige Armut.

Ihr Kundschafter aus Nicaragua
Christoph Fuhrbach

Hintergrund

Acht Frauen und Männer aus dem Bistum Speyer sind vom 28. November bis 11. Dezember auf Kundschafterreise in Nicaragua, um die seelsorgliche Arbeit der Kirche kennenzulernen und Anregungen für die Kirchenentwicklung im Bistum Speyer zu erhalten. Dieser Reiseblog erscheint zeitgleich auch auf der Website des Bistums Speyer.

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