Wie der Interreligiöse Dialog in Kenia Frieden fördert

Gruppenfoto des Exposure- und Dialogprogramms in Kenia 2018. ©EDP e.V.

Die ehemalige Geschäftsführerin der Deutschen Kommission Justitia et Pax, Gertrud Casel, berichtet von dem Exposure- und Dialogprogramm (EDP) in Kenia zum Thema „Power of Religion in Peace Building“.

Der Berg der Probleme ist hoch in Korogocho, einem Slum in Nairobi. Es ist ein „informal settlement“, dessen Strukturprobleme mindestens so hoch sind wie der acht Kilometer lange Müllberg, der seit 20 Jahren mitten im Viertel abgeladen und nicht weggeräumt wird. Gestank, Rauchschwaden und unglaublich viel Abfall auf aufgeweichten Wegen bestimmen den ersten Eindruck von Korogocho. Gewaltaffine Jugendgangs, Jugendarbeitslosigkeit, hohe Kriminalitätsrate, häusliche Gewalt und Vergewaltigungen, ungelöste Landfragen, fehlender Wohnraum, fehlende Hygiene – auch dies gehört zu Korogocho. Mehr als die Hälfte der Frauen im Slum sind ‚single mothers‘. Väter „verschwinden“, es fehlt an Geld für die Schule und dringend benötigte Medizin. Immer wieder treffen wir auf ‚bad governance‘ und Klientelismus, die die ethnischen und religiösen Differenzen verstärken und mit Konflikten aufladen, und verheerende Folgen haben.

Müllberg in Korogocho, einem Slum in Nairobi, Kenia. ©EDP e.V.

Aber die „power“ – die innere Kraft – derer, die sich gegen das Unheil stemmen, ist auch gewaltig. Ihr Ideenreichtum ist groß und die Aktivitäten in der Pfarrei St. John beeindruckend und zahlreich. Das Gelände der Filialkirche mit Schule und Kindergärten ist immer voll von Kindern und Jugendlichen. Es gibt Jugendarbeit mit Sport (Fußball und Basketball), Trommelgruppen und ein Jugendorchester. Auch Justice and Peace-Akteure bilden Jugendgruppen. Es gibt eine öffentliche Bücherei (mit PC!), kostenlose Rechtsberatung mit ausgebildeten „paralegal advisors“, Aktivitäten zum Weltgebetstag für den Frieden am 1. Januar, meist interreligiös, natürlich Frauengruppen, häusliche Krankenbesuchsdienste und ein Zentrum für Straßenkinder. Die Fastenkampagne 2018 fokussierte auf ‚civic education‘, auf biblischer Grundlage. Und sehr viele kleine christliche Gemeinschaften, allein 19 davon in Korogocho und 68 im Nachbarviertel, tragen zum sozialen Zusammenhalt und religiöser sowie gesellschaftlicher Bildung bei.

Frauenselbsthilfegruppe im Slum. ©EDP e.V.

Der Sonntagsgottesdienst im offenen überdachten Halbrund ist mit geschätzt 500 Leuten voll, der Chorgesang und Tanz vor dem Altar bezeugen die Freude an einem lebendigen Glauben. Wo möglich arbeitet man ökumenisch und die Friedens- und Menschenrechtsarbeit läuft weitgehend im Rahmen interreligiöser Zusammenarbeit oder Abstimmung. „Mama St. John“, meine Exposure-Gastgeberin, bei der ich drei Tage mitleben und -arbeiten darf, ist Seele und Motor der Justitia et Pax -Arbeit in der Pfarrei, ebenso im Dekanat und in der Diözese Nairobi. Sie kennt Gott und die Welt, ist ruhig und zurückhaltend, aber wenn sie spricht, dann mit Autorität, kenntnisreich – und sie findet Respekt. Sie ist getragen von einem unerschütterlichen Gottvertrauen und bleibt gelassen auch in schwierigen Situationen. Erst hatte sie abgelehnt, als der Pfarrer, ein Comboni Priester, sie fragte, die Justitia et Pax-Arbeit in der Pfarrei zu leiten („no education, no money“). Der Pfarrer war hartnäckig. Nach sechs Monaten Trainingskurs am Tangaza University College in Sachen Entwicklung und sozialer Transformation hat sie Ja gesagt und dann sind ihr die Aufgaben nur so zugeflogen. Nun ist sie zuständig unter anderem für die Beratung von Opfern häuslicher Gewalt, für Micro-Startups von Frauen, für die Caritas-Arbeit und die Rechtsberatung nach einer Ausbildung als „paralegal advisor“. Sie erfährt viel Unterstützung von Seiten der Pfarrei, von kirchlichen Führungskräften und Einrichtungen und gibt dies reichlich zurück.

„God has made it“, „it is my vocation“ – für sie ist es die Erfüllung eines Lebensweges, voll von Hindernissen. Finanziell ist sie arm geblieben, teilt sich die Behausung mit Tochter und Enkel, ärmlich und eng, aber Kinder des ‚compound‘, auf dem sie lebt, kommen abends und erhalten einen Teller voll aus den Schüsseln, die immer reichlich gefüllt sind, und ein gutes Wort, Trost. Gemeinsam lachen und singen sie. „It’s a miracle“, ruft sie aus. Ich stimme zu.

Ein Lehrstück über die Bedeutung interreligiöser Zusammenarbeit vor Ort

Beeindruckend, wenn sie von den Ereignissen im Oktober 2017 bei der Wiederholung der Wahlen in Kenia erzählt. Im August waren beim ersten Wahlgang allein in Korogocho 27 Jugendliche aufgrund von Polizeigewalt umgekommen. Am Vorabend der Wahlen im Oktober 2017 waren die Spannungen wieder eskaliert, stimuliert von einer „ethnic based policy“. „Mama St. John“ war Wahlbeobachterin. Sie wusste, dass nur zwei Polizisten im Viertel waren, viel zu wenige, um Ausschreitungen zu verhindern. Über den diözesanen Justice and Peace-Koordinator erreichte sie, dass der für die öffentliche Sicherheit Zuständige in der Stadt eine ordentliche Polizeipräsenz (ca. 25 Kräfte) entsandte, die die Lage beruhigen konnte.

Bezogen auf die Konfliktsituation im Umfeld der Wahlen hieß es beim Treffen der ‚interreligious leaders‘ während meines Aufenthaltes in der Pfarrei: „Talk to the troublemakers, we know them“. Pfarrer, Pastorinnen und Imame vereinbarten eine kontinuierliche Zusammenarbeit, um nicht zuletzt bei den nächsten Wahlen 2022 gewappnet zu sein. Alle schätzen das entstandene Netzwerk und wollen es pflegen. Sie sehen die prinzipielle Gemeinsamkeit in ihrem Glauben an den Einen Gott, der barmherzig ist und will, dass die Menschen, dass alle Menschen gut und gerecht leben. So kommt alles zur Sprache, was die Menschen im Slum bewegt, der Zugang zu sozialen Dienstleistungen, die Sorge um Schulabbrecher, die häusliche Gewalt, auch der Müllberg, „the dumpsite“ … Da sei offener Protest lebensgefährlich, aber durch Hintergrundarbeit („under cover“) habe man eine weitere Ausdehnung über die Straße hinaus mit Hilfe von Sicherheitskräften erreicht. „Talk to the people, stay together with them and cooperate with security“; eine aussichtsreiche Doppelstrategie, die zumindest in Korogocho Gewalt eingehegt hat und das Zusammenleben friedlicher macht. Daneben bleiben Lobby und Advocacy, der politische Dialog, auf der Agenda auch der örtlichen Religionsvertreter.

Andere Exposure-Gruppen machten ähnlich beeindruckende Erfahrungen in Marsabit und in der kenianischen Küstenregion. Es sind vor allem einzelne glaubwürdige Zeuginnen und Zeugen der Liebe Gottes, die in den Gemeinden vor Ort mitleben und den wesentlichen Unterschied ausmachen, den Weg bereiten von einer Gewaltkultur zu einem inklusiven Miteinander, die langsam, aber nachhaltig Veränderungen bewirken. Dies entfaltet seine Kraft dadurch, dass Kirchen und Moscheen die Engagierten unterstützen, ausbilden und trainieren, vernetzen und ihr Gewicht in die Waagschale werfen in einem kritischen Dialog mit Politik, Regierung und Verwaltung. Das Tangaza University College hat sich zu einem nicht nur akademischen Kraftzentrum entwickelt. Es bedeutet für die Engagierten eine spirituelle und intellektuelle Tankstelle. Es kooperiert mit der islamischen Umma Universität und hat damit ein Zeichen gesetzt, das weit bis in die Praxis vor Ort wirksam geworden ist.

Diese „Power of Religion“ – die Kraft zum Aufbau und Erhalt einer friedlichen und sozial kohärenten Gesellschaft sollte hier in Deutschland gerade im Diskurs über Frieden, Sicherheit und Entwicklung stärker beachtet werden. Dies betrifft zum einen die Nachhaltigen Entwicklungsziele, insbesondere Ziel 16 einer friedlichen und inklusiven Gesellschaft. Dies betrifft aber auch die friedenspolitischen Leitlinien der Bundesregierung vom September 2017 „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“. Es bleiben genug Herausforderungen im Follow-Up zu diesem spannenden Exposure- und Dialogprogramm, gerade auch für uns hier in Deutschland!

Von Gertrud Casel

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