Ein Vulkan der Wut ist ausgebrochen

Eindrücke aus besseren Zeiten. © Sandra Abrantes Diaz

Koffer packen, Abschiedsgeschenke kaufen, letzte Wege gehen und sich von allen seinen Lieben aus Nicaragua zu verabschieden. Darauf wollte ich mich ungefähr jetzt vorbereiten. Richtig, ich wollte, denn dieser Moment ist leider schon vorbei. Ein Anruf aus Deutschland veränderte alles. Innerhalb von 48 Stunden waren wir schon auf dem Weg zum Flughafen, um das Land zu verlassen. Der Hintergrund sind politische Unruhen.

Angefangen haben diese Unruhen am 18. April, als die Menschen zu Protesten gegen eine neue Sozialreform auf die Straße gingen. Immer mehr fanden sich zusammen, um gegen dieses Gesetz zu demonstrieren. Folge waren neben Straßenzerstörungen, Brandstiftung, Hunger nun auch über 200 Tote. Die eigentliche Gesetzesreform ist dabei in den Hintergrund gerückt – nun fordern die Menschen den Sturz des Präsidenten. Dieser hat sich nach einigen Wochen dann auch zu einem Dialog bereiterklärt, welcher jedoch abgebrochen wurde.

Es laufen maskierte, bewaffnete Bereitschaftspolizisten auf den Straßen, nicht nur um einzuschüchtern, sondern auch um zu vernichten. Doch wie konnte es nur dazu kommen?

Der Präsident Nicaraguas, Daniel Ortega, wird schon lange nicht mehr von der Mehrheit unterstützt. Im Jahr 2011 standen neue Präsidentschaftswahlen an, an denen er rechtlich gesehen nicht teilnehmen durfte, da eine Wiederwahl nur einmal möglich ist. Kurzerhand änderte er das Gesetz und wurde erneut Präsident Nicaraguas. Seither regieren er und seine Ehefrau, die Vizepräsidentin Rosario Murillo, das Land. Das Demokratiebewusstsein existiert unter dieser Regierung nicht und das Volk steht vor einer stetig wachsenden Armut. Mit der neuen Sozialreform, die eine Erhöhung der Steuern sowie eine Kürzung der Rente fordert, brach ein großer Vulkan der Wut aus.

Was bedeutet es, wenn die Menschen auf einmal protestieren?

Eine einfache Demonstration ist nach einigen Stunden vorbei und der Alltag geht weiter. Hier jedoch brachten diese Proteste Ausnahmezustände in das zweitärmste Land Lateinamerikas, die sich von der Hauptstadt bis in alle Städte des Landes ausbreiteten. Wenn die Straßen gesperrt sind und keine Transportmöglichkeiten mehr bestehen, dann heißt das auch, dass die Schul- und Arbeitswege nicht passierbar sind – man bleibt Zuhause. Auch die Nahrungsversorgung ist dadurch gestoppt, keine Transporter mit frischen Produkten kommen in die Städte und die Supermärkte sind geschlossen. Auch Banken bleiben zu. Eine lange Kette, bei der das eine das andere bedingt. Die Angst ist überall, man geht nicht auf die Straße. Doch leider ist man auch zuhause nicht mehr sicher, denn seit Kurzem erreichen die Polizisten auch die Häuser. Die Häuser werden mit verschiedenen Farben markiert, um sichtbar zu machen, wo welche politische Gruppe lebt. Nur mit einem weißen Fleck bleibt ein Haus verschont.

Auch Nachrichten erreichen die Menschen nicht. Da die meisten Medien und Informationskanäle in den Händen des Präsidentenpaares sind und die einzigen beiden Nachrichtensender des Volkes in ihrer Arbeit gestört, Journalisten bedroht und Kameras eingesammelt wurden, sitzt man in einer großen Ungewissheit Zuhause.

Da war sie noch fröhlich: Sandra (l.) im Mädchenwohnheim. © Sandra Abrantes Diaz

Was hieß das für mich?

Ich war eingeschüchtert, ich hatte Angst und höre noch immer bei jedem lauten Knall einen Schuss. Zunächst habe ich mir tatsächlich nicht allzu viele Sorgen gemacht, weil in solchen instabilen politischen Ländern Aufstände nichts Außergewöhnliches sind. Als es jedoch am dritten Tag so weit ging, dass Fahnen der regierenden Partei in der Öffentlichkeit angezündet wurden, die Anzahl der Toten stetig stieg und tatsächlich auch Nahrungsmittelengpässe entstanden, begann ich mir Sorgen zu machen. Auch nachts schlief man nicht, man hörte die Krawalle. Unter diesen Umständen habe ich etwa einen Monat gelebt. Es hieß nur für die Arbeit auf die Straße zu gehen, am Wochenende das Haus nicht zu verlassen und abends den Magen mit einem Kaffee zu füllen. Einige Nächte habe ich auch aus Sicherheitsgründen in dem Mädchenheim verbracht, da nun auch Häuser besucht wurden.

Sandras Gedanken sind noch immer bei den Kindern im Mädchenheim „Madre Albertina“. © Sandra Abrantes Diaz

Dennoch habe ich mir nicht Gedanken gemacht zurückzufliegen. Ich habe meine Arbeit geliebt und gerade in dieser schwierigen Situation, unter den so unverständlichen Zuständen für die Mädchen, hatte ich das Gefühl, dass meine Hilfe umso notwendiger war. Eine Umarmung, tröstende Worte, eine Gute-Nacht-Geschichte, waren so wichtig. Und dann werde ich aus meinem Leben gerissen. Ich bekomme einen Anruf und soll alles zurücklassen, um mich in Sicherheit zu bringen. Ein grauenhaftes Gefühl. Ich habe liebe Menschen zurückgelassen gegen meinen Willen. Ich habe sie zurückgelassen in einer Ungewissheit, in einer Trauer und sitze nun in Deutschland, wo nichts von alldem die Medien erreicht.

Schnell haben mir die Mädchen noch Bilder gemalt, Briefe geschrieben und eine kleine Abschiedsfeier vorbereitet. Unter Tränen lagen wir uns alle in den Armen und es blieb mir nur Danke zu sagen und jetzt hoffe ich, dass ich sie eines Tages wiedersehen kann.

Von Sandra Abrantes Diaz

Sandra war für „Die Sternsinger“ und Missio als Freiwillige sei August 2017 in Nicaragua. In der drittgrößten Stadt Granada arbeitete sie in dem Mädchenheim „Madre Albertina“, das missbrauchten und benachteiligten Mädchen Obhut bietet. Auch wenn der Freiwilligendienst ein Jahr dauern sollte, musste sie aufgrund von politischen Unruhen das Land Ende Mai frühzeitig verlassen. Mehr Infos zum Freiwilligendienst gibt es auf mein-eine-welt-jahr.de.

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