Als Freiwillige in der mexikanischen Migrantenherberge „La72“

Wandmalerei in der Migrantenherberge „La72“ im mexikanischen Tenosique. © Annika Fuchs

Mexikos Migrantenherbergen sind stark überlastet. Das hat Annika Fuchs mit eigenen Augen gesehen, als sie einen Freiwilligendienst in der bekannten Herberge „La72“ an der Grenze zu Guatemala absolviert hat, die von einem Franziskaner gegründet wurde. Im Blog berichtet sie über ihre Eindrücke.

„La 72“ ist eine Herberge für Menschen mit Migrations -und Fluchterfahrung in Tenosique, Tabasco, Mexiko, einem Dorf nahe der Grenze zu Guatemala. Der Name „La 72“ steht für das San-Fernando-Massaker, einem in den Drogenkrieg verwickelten Massenmord an 72 lateinamerikanische MigrantenInnen am 24. August 2010 im mexikanischen Bundesstaat Tamaulipas, den nur zwei Personen überlebten. Gegründet wurde die Organisation am 25. April 2011 durch einen Mönch namens „Fray Tomás“. Dieser gehörte den Franziskanern an und hatte das Bedürfnis, Menschen in Flucht und Not zumindest eine Mahlzeit und ein Dach über dem Kopf anzubieten.

Wandmalerei auf Spanisch: „Trump, du wirst derjenige sein, der das Feuer des Widerstands der Völker entfacht.“ © Annika Fuchs

Mittlerweile ist „La 72“ weit mehr als „nur“ ein Ort zum Schlafen und Essen. Mit den Jahren wurde das Gelände mit verschiedenen „módulos“ (dt. Anbauten) immer weiter ausgebaut. So gibt es mittlerweile ein „módulo“ für Frauen, Männer, nichtbegleitete Minderjährige, LGTBQ+ und Freiwillige. Die Arbeit der „La72“ beruht auf der Partizipation von Freiwilligen. Es gibt zwar ein sogenanntes „equipe base“ (dt. Grundteam), aber in Bezug auf die Anzahl der Menschen, die jeden Tag neu ankommen und sich bereits in „La 72“ befinden (zwischen 300 bis 400 Menschen), bedarf es an mehr Händen, die helfen. So habe auch ich für vier Monate einen Freiwilligendienst in „La 72“ absolviert. Angefangen habe ich Ende Januar 2019. Mit einem Freiwilligendienst von vier Monaten kann man einen langen Aufenthalt machen. Das bedeutet, nach einem Monat Kurzaufenthalt entscheidet man sich für einen Arbeitsschwerpunkt der Organisation.

Es gibt drei Bereiche: Struktureller Wandel, Menschenrechte und Migrationsmanagement sowie vulnerable Gruppen (Arbeit mit Kindern, Frauen, nichtbegleiteten Jugendlichen und LGBTQ+). Während des Kurzaufenthalts wohnen alle Freiwilligen zuerst in der Einrichtung und wechseln dann nach einem Monat in ein Haus, in dem alle Freiwilligen des längeren Dienstes wohnen. Die Arbeit in dem ersten Monat richtet sich mehr auf die alltäglichen Bedürfnisse der Flüchtlinge und MigrantInnen. So hilft man beispielsweise bei der Ausgabe von Schmerzmitteln oder dem Entfernen von Blasen. Des Weiteren muss sich jede Person, die in „La 72“ ankommt, registrieren. Das bedeutet, die Freiwilligen notieren die wichtigsten Daten in einer Excel-Datenbank durch ein kurzes Interview und versuchen die Bedürfnisse der Neuangekommenen zu kanalisieren, um sie dann gezielt weiterzuleiten. In „La 72“ befinden sich auch „Ärzte ohne Grenzen“, die einen Service von Medizinern, aber auch Psychologen und Sozialarbeitern anbieten. Im kurzen Freiwilligendienst ist man rund um die Uhr beschäftigt. Gibt es um drei Uhr morgens einen Notfall, hat man aufzustehen und sich um die betroffene Person zu kümmern, um schlimmstenfalls die Person ins Krankenhaus zu begleiten.

Wandmalerei mit Fluchtrouten durch Mexiko und den einzelnen Migrantenherbergen. © Annika Fuchs

Nach einem anstrengenden, aber sehr erfahrungsreichen Monat konnte dann auch ich in das Haus außerhalb der Organisation ziehen. Gleichzeitig entschied ich mich für den Arbeitsschwerpunkt im Bereich der Menschenrechte. Das Tätigkeitsfeld umfasst eine juristische Vertretung der Personen, die sich dafür entscheiden, in Mexiko Asyl zu beantragen. Viele Menschen, die in „La 72“ ankommen, sehen Mexiko als Transitland an, um in die USA zu gelangen. Dafür steigen viele auf den wohlbekannten Zug „La Bestia“ auf, um auf eine günstige, aber sehr gefährliche Weise ihr Ziel zu erreichen. Andere wiederum sehen Mexiko als Zielland an und möchten sich dort niederlassen.

Zahl der Asylanträge auf Rekordhöhe

Seit Anfang des Jahres 2019 sind die Zahlen der Besucher der „La 72“ und auch die Zahlen der AsylbewerberInnen enorm gestiegen und waren so hoch wie nie zuvor. So haben die Freiwilligen im April 2019 eine Rekordzahl von über 2.000 (um genau zu sein 2.066) ankommenden Personen registriert. Dabei muss in Betracht gezogen werden, dass längst nicht alle Menschen registriert worden sind, denn einige weichen dem Interview aus. Nach meiner Abreise Ende Mai dürften die Freiwilligen wahrscheinlich noch mehr Personen registriert haben. Zwischen Januar und Juni 2019 sind bereits 31.355 Asylanträge in den verschiedenen Büros der COMAR (mexikanische Kommission der Flüchtlingshilfe) eingegangen. Im Vergleich dazu: Zwischen Januar und Juni 2018 lag die Zahl der Asylanträge bei 10.255 Anträgen. Insgesamt sind 2018 dort 29.648 Anträge eingegangen. Das bedeutet, dass alleine in der Hälfte der Zeit dieses Jahr bereits eine höhere Anzahl an Anträgen zu zählen ist als im gesamten vergangenen Jahr. Dementsprechend wurden auch die Migrationskontrollen erhöht und Menschen abgeschoben, um den großen Anstieg an Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrungen zu reduzieren, natürlich auf Kosten der Menschenrechte.

Mit den zunehmenden Zahlen begleiten wir dementsprechend auch mehr Personen in ihrem Asylprozess. Alle Personen, die in „La 72“ angekommen sind, müssen am folgenden Tag einem Vortrag über Asyl in Mexiko zuhören. Jeder Mensch hat das Recht, einen Asylantrag zu stellen, auch wenn er/sie „nur“ aus ökonomischen Gründen das Herkunftsland verlassen hat. Nach dem Vortrag, den die Freiwilligen des Arbeitsbereiches der Menschenrechte geben, machen wir Interviews mit den Leuten, die tatsächlich Asyl beantragen wollen. Die Interviews sind sehr interessant, denn man muss die ganze Geschichte der Leute kennenlernen, um sie in ihrem Prozess begleiten zu können. Gleichzeitig sind sie aber auch anstrengend. Zum einen wegen meinen manchmal fehlenden Spanischkenntnissen, aber mehr wegen der emotionalen Belastung.

Hinter jeder Geschichte steht ein anderer Mensch

Nach dem Interview begleiten wir die AsylbewerberInnen in den Prozessen in der COMAR. So ist die Mehrheit der AsylbewerberInnen aus Honduras, da dort grausame Zustände aufgrund der kriminellen Gang „Mara Salvatrucha” herrschen. Durch die Schließung des Institutes der Migration in Tapachula im mexikanischen Bundesstaat Chiapas und dem dort herrschenden Chaos der COMAR, aufgrund von zu vielen Bewerbungen, kommen nun mehr Leute auch in Tenosique in Tabasco an, wo „La 72“ ihren Sitz hat.

So habe ich Interviews mit Leuten aus El Salvador, Guatemala, Honduras, Nicaragua, Haiti und Kuba gemacht. Manche Schicksale ähneln sich, dennoch ist jedes individuell, denn hinter jeder Geschichte steht ein anderer Mensch. Auch wenn die Arbeit manchmal etwas frustrierend ist (denn nur etwa 20 Prozent der Asylanträge werden genehmigt), ist sie unheimlich wichtig, denn sie ermöglicht es Menschen, die aus weniger privilegierten Orten kommen, einen Zugang zu ihren Rechten zu erhalten.

Von Annika Fuchs

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