Renovabis: Europa muss Herzensangelegenheit werden

Dr. Markus Ingenlath, Renovabis-Geschäftsführer.

Europa bereisen, Sprachen und Geschichte lernen und gemeinsam pilgern. Das sind nach dem Renovabis-Geschäftsführer Dr. Markus Ingenlath wichtige Dinge, um Europa wieder zu einer Herzensangelegenheit zu machen.

Die bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament erinnern wahlberechtigte Bürgerinnen und Bürger vermutlich wieder daran, dass ein Engagement für ein zusammenwachsendes Europa für viele ein Abwägen zwischen „Kopf“ und „Bauchgefühl“ bedeutet.

Mit dem Verstand sind die Begründungen für mehr Europa schnell begriffen: Herausforderungen wie Krieg und Frieden, Migration, Verteidigung der Menschenrechte, Klimaschutz, Wirtschaft, Finanzen usw. sind alle zu groß geworden für einzelne Nationalstaaten in der Globalisierung. Sie können nur gemeinsam innerhalb einer engen Zusammenarbeit in der Europäischen Union gelöst werden. Nur so können wir den zentralen Werten, die unser gemeinsames Haus Europa weltweit so attraktiv machen – Frieden, Freiheit und soziale Sicherheit – in Zukunft Geltung verschaffen.

Es bleibt allerdings eine ungelöste Dauerfrage, wie der Schritt von der verstandesmäßigen Einsicht dieser Argumente für Europa hin zu einer emotionalen Unterstützung des europäischen Einigungsgedankens vollzogen werden kann. Nur wer Europa, diesen alten, zerbrechlichen, von so viel Geschichte gezeichneten, und dabei zugleich mit so viel Erfindungsgeist, kultureller Schaffenskraft und vitaler Energie ausgestatteten Kontinent emotional in sein Herz geschlossen hat, ist auch bereit, sich dafür zu engagieren.

Um Europa zur Herzensangelegenheit zu machen, sind nach meiner Erfahrung drei Dinge notwendig:

1. Europa muss für die Menschen Teil ihrer Lebensbiografie und -erfahrung werden:

Jeder Mensch in Europa sollte sich auf den Weg machen und eine kleine oder größere Zeitspanne in einem Land Europas leben, lernen oder arbeiten – je jünger desto besser natürlich, jedoch nicht nur in der Jugend. Der Aufenthalt eröffnet neue persönliche Begegnungen, schafft Freundschaften und manchmal sogar neue Gemeinschaft. Unweigerlich wird man dabei mit anderen Verhaltensformen, Traditionen oder Lebensweisen konfrontiert und vergleicht sie mit den eigenen. Egal, wie die Bilanz am Ende ausfällt – immer kehrt man verändert in die Heimat zurück, reicher um viele Erfahrungen, vor allem um die, selbst fremd in einem anderen Land gewesen zu sein. Zunächst einmal jedem jungen Menschen eine solche Erfahrung zu ermöglichen wäre für mich ein großartiges politisches Ziel, an dem Europa bisher – trotz aller Rhetorik sowie Programmen wie Erasmus und Co. – immer noch an Bedenkenträgern und ungenügender Finanzierung scheitert.

2. Sich einlassen auf die Menschen und ihre Kultur mit Sprache und Geschichte:

Nichts gegen schöne Urlaubstage oder Erlebnisse mit Interrail-Fahrkarten nach dem Motto „In 30 Tagen durch 28 Länder“! Aber um Europa zu erfassen und sich ihm emotional verbunden zu fühlen – dafür geht es um mehr: Der Zugang zu Ländern, zu Kulturen und damit zu Menschen erfolgt durch Sprache und Geschichte. Die Notwendigkeit von Sprachkenntnissen hängt sicherlich von kulturellen, geografischen oder historischen Gegebenheiten ab. Englisch ist nur die nötige Grundvoraussetzung – eine lingua franca wie es das Lateinische früher war. Als Deutsche leben wir aber in der Mitte des Kontinents in zwei großen kulturellen Nachbarschaften. Deshalb sollte jeder, der die Chance dazu hat und sich dazu in der Lage fühlt, auch noch eine romanische und eine slawische Sprache erlernen. Denn die Sprache bleibt der Schlüssel zu Gedanken und Herzen der anderen Menschen – noch vor jedem möglichen Vorteil bei der Berufswahl!

Auch die Wirkmacht der Geschichte darf man nicht außer Acht lassen: Unsere Nachbarn und europäischen Mitbürgerinnen und Mitbürger sind von Geschichtsbüchern und Gedenktagen anders geprägt als wir Deutschen, die aus nachvollziehbaren Gründen dazu neigen, alles vom Zweiten Weltkrieg und Holocaust her zu denken. Sicherlich: Wer in Warschau, Auschwitz oder Wolgograd, dem früheren Stalingrad, mit polnischen und russischen Augen unterwegs gewesen ist, vergisst dies als Deutscher so schnell nicht. Aber es gibt darüber hinaus ebenfalls die Zeremonien und die Erinnerungskultur auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs in Frankreich und Belgien, die Erinnerung an diesen Krieg und seine bis in die heutige Politik reichende Traumatisierung in Ungarn; die Erinnerung an den Abwehrkampf gegen das Osmanische Reich von Montenegro bis Malta oder das in ganz vielen slawischen Staaten anzutreffende Narrativ vom heldenhaften Abwehrkampf gegen eine Bedrohung aus dem Osten, mag sie nun mongolisch, tatarisch oder eben osmanisch geprägt gewesen sein. Alle diese historischen Narrative formen unsere gemeinsame europäische Geschichte, sie zeigen, welch langen Weg wir bis heute in Europa zurückgelegt haben, und wie wichtig der Versöhnungsgedanke bleibt.

3. Die Kirchen müssen mehr Plattformen bieten für gemeinsame Glaubenserfahrungen:

Als Christen müssten wir über diese wichtigen Fragen hinaus noch mehr tun, um den Menschen in Europa die gemeinsamen jüdisch-christlichen Wurzeln erfahrbar zu machen. Eine Form, den gemeinsamen Glauben zu erleben, ist dabei sicherlich die Wallfahrt. Und erfreulicherweise findet das Pilgern gerade in Deutschland wieder regen Zulauf. Aber handelt es sich dabei nicht eher um homogene nationale Gruppen oder Einzelpilger, die in Richtung angesagter Destinationen im klassischen Süden Europas – Santiago, Rom, Mariazell – unterwegs sind? Hand aufs Herz: Wer kennt schon Tschenstochau in Polen, Maria Radna in Rumänien oder Máriapòcs in Ungarn? Und wie viele Pilger haben während ihrer Wallfahrt Kontakt zu Menschen aus dem Gastland oder anderen Ländern? Ja, auch hier spielen sprachliche Hürden sicherlich eine Rolle. Es gibt aber zurzeit noch zu wenige gemeinsame Plattformen für bewusstes gemeinsames Gebet der Europäerinnen und Europäer, einmal abgesehen von der katholischen Militärseelsorge mit der jährlichen Soldatenwallfahrt nach Lourdes, der Europawallfahrt der Ackermann-Gemeinde oder, sehr neu, der Renovabis-Wallfahrt. Damit könnte der Kitt erneuert werden, der unseren Kontinent über Jahrhunderte zusammengehalten hat.

Wortgleich könnte man über Europäische Kirchentage schreiben. Wallfahrten und Kirchentage mehr europäisch zu organisieren wäre aber nur ein erster Schritt: Notwendig wären regelmäßige Schulaustausche katholischer Schulen über den Kontinent hinweg, Partnerschaften zwischen Pfarrgemeinden und sicherlich auch mehr lebendiger Austausch zwischen nationalen Bischofskonferenzen. So könnten katholische Christen ein Stück mehr Beheimatung in Europa und in der Weltkirche spüren.

Begegnung, eigene Anstrengungen unternehmen durch die Befassung mit Sprache und Geschichte sowie gemeinsames Beten – drei Wege, die Europa mehr zur echten Herzensangelegenheit werden lassen.

Von Dr. Markus Ingenlath

Dr. Markus Ingenlath ist seit Juli 2018 Mitglied der Geschäftsführung des Osteuropa-Hilfswerks Renovabis. Dort leitet er die „Abteilung Kommunikation und Kooperation“, die die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, die Bildungs- und Partnerschaftsarbeit sowie das Spendenmarketing umfasst. Ingenlath war vorher Generalsekretär des Deutsch-Französischen Jugendwerks und erhielt für seine Verdienste in der bayerisch-französischen Zusammenarbeit 2018 den Montgelas-Preis. Die Montgelas-Gesellschaft würdigt jährlich eine Persönlichkeit aus Bayern und zugleich eine Persönlichkeit aus Frankreich, die sich um das geistige Erbe des „Architekten des modernen bayerischen Staates“ und um den bayerisch-französischen Austausch verdient gemacht haben.

Mehr Infos zum Osteuropa-Hilfswerk Renovabis und der aktuellen Pfingstaktion auf weltkirche.de.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert