Seit einer Woche lebe ich in La Paz. Die ersten Tage nutzte ich für die Akklimatisierung in der Höhe und einige Behördengänge sowie die Wohnungssuche. Noch warte ich darauf, dass mein Visumsantrag bewilligt wird. Eine Bleibe habe ich hingegen schnell gefunden und Symptome der Höhenkrankheit hatte ich glücklicherweise kaum.
Am Montag begann meine Tätigkeit als Entwicklungshelferin in El Alto. Mit Spannung bin ich an diesem Tag in der Seilbahn auf 4.100 Meter gefahren, um meinen Arbeitsplatz und das Umfeld, in dem ich die kommenden drei Jahre arbeiten werden, kennenzulernen. Der Ausblick aus der Gondel auf den Talkessel ist atemberaubend. Die Gespräche mit den anderen Fahrgästen betreffen die umstrittene Präsidentschaftswahl und deren Ausgang. Der Arbeitsweg gestaltet sich somit als sehr kurzweilig.
Vergangenen Sonntag hat die bolivianische Bevölkerung gewählt. Da in Bolivien eine Wahlpflicht für alle Bürger über 18 Jahre herrscht, standen die Menschen von 8 bis 16 Uhr Schlange vor den Wahlkabinen. Wer nicht wählt, zahlt eine Geldbuße. Regelmäßigen Nichtwählern droht gar der Einzug des Ausweises oder die Sperrung des Bankkontos. Bei dem Besuch eines Wahllokals in einer Schule konnte ich mich davon überzeugen, dass die Wahl friedlich verlief. Am Abend verfolgte ich neugierig im Wohnzimmer von bolivianischen Freunden die Zwischenergebnisse und lauschte den Kommentaren der Analysten. Alles schien auf eine Stichwahl zwischen dem Amtsinhaber Evo Morales und seinem stärksten Kontrahenten Carlos Mesa hinauszulaufen. Doch nachdem fast 84 Prozent der Stimmen ausgezählt waren, unterbrach die Wahlkommission überraschend die Schnellauszählung. Evo Morales erklärte sich in Folge zum Gewinner, während Carlos Mesa das Erreichen der zweiten Runde feierte. Bislang ist das offizielle Endergebnis der Wahl weiterhin unbekannt.
Doch der Streit um das Wählervotum hat längst begonnen. Böller und Barrikaden gehören inzwischen zu meinem Alltag. Als Hochburg des Widerstands gegen den seit vielen Jahren amtierenden Präsidenten Evo Morales formierte sich rasch die Wirtschaftshauptstadt Santa Cruz. In La Paz und anderen Orten wird ebenfalls demonstriert. Viele Jugendliche bringen ihre Wut über einen angeblichen Wahlbetrug zum Ausdruck. Dabei kommt es auch zu Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten. Dass die Polizei Tränengas einsetzt, trägt kaum zur Deeskalation der Situation bei. Meine Kollegen im Hochland haben sich derweil mit Nahrungsmitteln eingedeckt und Hamsterkäufe getätigt, um sich vor den Folgen des Generalstreiks zu schützen. Mir wird dringend angeraten, nach der Arbeit zu Hause zu bleiben und so fühle ich mich nach den ersten Tagen in La Paz, in denen ich Freunde traf und mich an dem kulturellen Angebot erfreute, in meiner Bewegungsfreiheit deutlich eingeschränkt.
Viele Bolivianer fühlen sich zum zweiten Mal in Folge betrogen, denn immer wieder wird darauf verwiesen, dass die Kandidatur von Evo Morales nicht rechtmäßig war. 2018 entschied das Verfassungsgericht, dass das Ergebnis des Referendums 2016 gegen die Menschenrechte verstoße. Ein fragwürdiger Entscheid, zumal die Richter dem Präsidenten freundlich gesonnen waren. So argumentieren nicht nur das bürgerliche Lager um Kandidat Carlos Mesa, sondern auch jene, die darauf aufmerksam machen, dass der Wille der Bevölkerung der Souverän im Staate ist.
Meine Anwesenheit als Friedensfachkraft in diesem Augenblick erscheint einerseits gerechtfertigt, weil die Wahl ein Thema ist, das die Gesellschaft polarisiert und andereseits überkommt mich ein Gefühl der Ohnmacht angesichts der zerbrechlichen Demokratie und der komplexen Situation, die mich umgibt. So bleiben mir in den ersten Tagen vor allem der ständige Austausch mit meinen bolivianischen Kollegen und die Analyse von möglichen Optionen, die sich dem Land derzeit stellen. Auch durch die Vernetzung mit anderen Fachkräften und Freiwilligen von Eirene gelingt es, Spielräume zu erkennen und ein Gefühl von Sicherheit herzustellen. Externe Wahlbeobachter zeigen sich besorgt über die überraschende Trendwende bei veröffentlichten Teilergebnissen und empfehlen eine zweite Runde. Auch die katholische Kirche ist besorgt über die merkwürdige Stimmenauszählung und die gewaltsamen Proteste. Dennoch ist es eher unwahrscheinlich, dass die Partei von Evo Morales die bolvianische Bischofskonferez als Vermittler in dem Konflikt akzeptiert und auf ihren Rat hört. Zu groß ist der Graben zwischen MAS (movimiento al socialismo) und der katholischen Kirche.
Steht meine Tätigkeit als Friedensfachkraft in einer katholischen Stiftung also unter keinem guten Stern, oder werden meine Geduld und Ausdauer, welche man bei der Suche nach Frieden braucht, damit einfach nur auf die Probe gestellt? Diese Frage treibt mich derzeit um.
Von Esther Henning
Esther Henning unterstützt und berät als Friedensfachkraft des Internationalen Christlichen Friedensdienstes Eirene die Partnerorganisation FOCAPACI in El Alto, Bolivien. FOCAPACI gestaltet partizipative Dialogprozesse mit gesellschaftlichen Gruppen, um die Gewalt zwischen ihnen zu überwinden und gerechte Verhältnisse zu schaffen.