Welch aktuelle Bedeutung doch der Abschnitt des Johannesevangeliums von der Auferweckung des Lazarus in dem Andendorf erhält, in dem Pater Wilfredo wohnt! Das Wort Jesu am Grab „Lazarus komm heraus!“ wird hier plötzlich auf neue Weise ganz anschaulich. Was war geschehen?
Saturnino, der Teniente Gobernador, arbeitete am Freitag mit einer Gruppe von Männern, um eine Straße nach einem Bergsturz wieder befahrbar zu machen. Ein plötzlicher erneuter Erdrutsch verschüttete ihn. Er war „enterrado“, begraben, berichtete man mir. Seine Kollegen schafften es, ihn auszugraben – noch lebend. Erneut dem Leben geschenkt! Sie brachten ihn in den Gesundheitsposten, wo eine Krankenschwester und ein Krankenpfleger die Notversorgung vornahmen. Außerdem verständigten sie Lima und am Samstag sollte ein Hubschrauber kommen, um Saturnino abzuholen.
Im Krankenwagen am Rande des Sportplatzes, dem Landeplatz für den angekündigten Hubschrauber, sprach ich mit dem Schwerverletzten, der am Tropf hing. Eine bewegende Begegnung mit einem Menschen, der gerade noch mal dem Tod entronnen war.
Ein Mädchen namens Maricruz
Neben dem auf einer Bare Liegenden saß die zwölfjährige Maricruz. Als ich sie fragte, was sie denn habe, antwortete sie: „Meine Bibel“. Ich war überrascht, denn ich hatte sie nach ihrer Krankheit gefragt und sie antwortete mit einem Verweis auf ihre Bibel. Diese hielt sie fest in ihren Händen, um sie als kostbare Begleiterin mit ins Krankenhaus zu nehmen. Erstaunlich! Hätte ich in einer solchen Situation auch daran gedacht, „meine Bibel“ mitzunehmen?
Das Mädchen stammt aus Canin, einem Dorf weiter oben auf 3.850 Metern in den Anden. Vor acht Tagen hatte ein herabstürzender Baumstamm bei einem Bergrutsch sie am Bein verletzt. Nun sollte sie ebenfalls ausgeflogen werden.
Welch Namen mit tiefer Bedeutung doch Campesinos ihren Kindern geben: „Maricruz“, „Maria unter dem Kreuz“. Wie sehr traf dies die aktuelle Lebensrealität des Mädchens. Die Folgen des Klimawandels verschonen selbst Kinder nicht. Sie haben das Kreuz des Klimawandels bereits jetzt zu tragen.
Die Landung des Hubschraubers und der Abtransport der Kranken waren das Dorfereignis. Dass doch so etwas heute in Peru möglich ist! Das erfüllte mich mit ungläubigem Staunen, aber auch mit Bewunderung. Ich erinnerte mich an die Pfarreiarbeit in den Elendsvierteln in Lima 1987 und 1988: für 20.000 Menschen gab es damals keine Gesundheitsversorgung!
Wandel und Fortschritt – auch im Umgang mit Indigenen
Angelika Matulla, Krankenschwester und Hebamme von unserem Pastoralteam damals, bildete freiwillige GesundheitshelferInnen aus für die nötige Erste Hilfe – und das 22 Kilometer vom Zentrum Limas entfernt. Einen Ambulanzwagen gab es damals bei uns nicht. Auch kein Telefon, um einen solchen in Notfällen rufen zu können. Und nun, 2017, kommt ein Hubschrauber in ein Bergdorf, dessen Zufahrt verschüttet ist, um Kranke abzuholen. Welch ein Wandel und Fortschritt in Peru!
Nicht nur, was das Gesundheitswesen anbelangt. Vor allem und gerade, was die Wertschätzung und Anerkennung der Würde auch der Campesinos angeht, die aus einer solchen Aktion sprachen. In den achtziger Jahren wäre ein solcher Hubschraubereinsatz undenkbar gewesen. Damals war ein rassistisches Verhalten seitens der Machteliten und Institutionen des Staates gegenüber der indigenen Bevölkerung auf dem Land und dem Urwald an der Tagesordnung.
So hatte es die staatliche Wahrheits-und Versöhnungskommission unter Leitung von Salomon Lerner, dem damaligen Rektor der Katholischen Universität, nachgewiesen. Es bleibt zu hoffen, dass die jetzige Regierung die Empfehlungen dieser Kommission endlich konsequent umsetzt und so zu einer Versöhnung der Gesellschaft beiträgt, zumal der Präsident Perus an der Katholischen Universität studiert hat. Zudem sollte die Regierung ein Programm der Prävention von Klimafolgeschäden für die gefährdeten Teile des Landes – auch im Andenraum – entwickeln, sowie auf internationalen Konferenzen den Klimaschutz und die Implementierung des UN-Klimaabkommens von Paris 2015 als betroffenes Land entschieden vertreten.
Von Prälat Josef Sayer
Prälat Prof. Dr. Josef Sayer (geb. 1941) war über 14 Jahre lang Hauptgeschäftsführer und Vorstandsvorsitzender des Bischöflichen Hilfswerkes Misereor. Von 1981 bis 1988 lebte und arbeitete der in der Erzdiözese Cuzco inkardinierte Priester in Peru. Von 1988 bis 1998 war er Professor für Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg.