In unserem Predigtgespräch am 5. Fastensonntag zur Erweckung des Lazarus (Jn 11) machten wir uns klar, dass das Thema „Leben und Tod“ ist. Die Menschen berichteten von „Schritten des Todes“ während der vergangenen Woche.
Schritte des Todes
Eine Reihe von Bergstürzen etwa infolge der wiederholten Starkregen hatten nicht nur Wege verschüttet. Auch die Wasserleitungen mehrere Dörfer waren zerstört, sodass es mehrere Tage auch hier kein Trinkwasser gab – wie in Lima, wie ich im letzten Blogbeitrag berichtet habe. Und da es kein Wasser gab, gab es auch kein Brot. Ein Stück weiter oben im Tal hatte ein schwerer Bergsturz das Wasserkraftwerk beschädigt, sodass wir drei Tage keine Stromversorgung hatten.
Der Fluss hatte nach diesem Bergsturz auch die Forellenkulturen zerstört und damit die Lebensgrundlage der Besitzer. In unserem Dorf schlafen einige Familien aus Angst nicht mehr in ihren Häusern. In deren Nähe nämlich ist es zu Bergrutschen gekommen. Die Familien befürchten, dass wegen des Regens weitere Erdmassen und Felsen ins Rutschen kommen könnten. Sie schlafen nun in Zelten und Notunterkünften. Aufgrund des zerstörten Straßenzugangs in unser Tal gehen in den Läden bestimmte Lebensmittel aus wie etwa Gemüse. In einem Dorf haben die Läden wegen des fehlenden Nachschubs ganz geschlossen; die Inhaber sichern so den Eigenkonsum.
Eine weitere negative Folge des Klimawandels und der damit verbundenen Starkregen war, dass bereits seit zwei Wochen die Schulen geschlossen blieben: auch diese Tatsache gehört zu den „Schritten des Todes“ in unserem Tal. Und Schulbildung als Vorbereitungszeit und Grundlage für Kinder und Jugendliche findet auch die nächste Woche nicht statt und wer weiß, wie es in der Karwoche damit ist.
Schritte des Lebens
Wie Jesus vor 2.000 Jahren Leben spendete, so will er es nicht nur am Ende tun, sondern bereits jetzt, hier und heute durch seine Gemeinden. In unserem Predigtgespräch tauschten wir uns in der vergangenen Woche also auch über die „Schritte des Lebens“ aus, wie wir es in Lateinamerika zu nennen pflegen. Etwa über die Rettung von Saturnino. Wir machten uns zudem klar, dass die verschiedenen „faenas“, die unentgeltlichen Gemeinschaftsarbeiten zur Beseitigung der Schäden von Bergstürzen an Straßen und Wasserleitungen ebenfalls solche Schritte des Lebens sind. Die Frauen berichteten, sie hätten für diese freiwillig Arbeitenden jeweils eine „olla comun“, ein gemeinschaftliches Mittagessen bereitet.
Die vom Klimawandel betroffenen Armen, die so gut wie nichts zur Emission von Treibhausgasen beigetragen haben, legen nicht etwa die Hände in den Schoß und verweisen auf die Schuldigen und warten auf Hilfe. Sie packen unmittelbar an und dienen somit dem Leben – im Sinne der Lazarus-Geschichte. Dabei greifen sie auf die alte kulturelle Tradition aus der Inka-Zeit zurück: die „faenas“, die unentgeltliche Gemeinschaftsarbeit zum Wohl des Gemeinwesens.
Mich erinnert das an die Arbeit im Elendsviertel: Sonntag für Sonntag von 6 bis 8 Uhr morgens vor der Messe Gemeinschaftsarbeit zum Wohl aller. Auch wir vom Pastoralteam hatten da mitzuarbeiten. Und so entstand unter pastoraler Anleitung und Unterstützung von Franz Marcus, Mitglied des Pastoralteams, die Wasserleitung für unsere Elendsviertel, finanziell unterstützt durch Luxemburg. Wasserversorgung auf dem Land, Wasserversorgung in den Elendsvierteln, die Armen packen an.
Ein weiterer „Schritt des Lebens“: besorgte Eltern aus den Dörfern riefen während der vergangenen Woche an in der „Albergue Escolar San Antonio“, einem Schülerwohnheim der Pfarrei, um zu fragen, wann denn der Unterricht wieder weitergehe. Um den Jugendlichen aus abgelegenen Dörfern eine Sekundarschulbildung zu ermöglichen, hatte Pater Wilfredo diese Albergue mit Unterstützung von Partnergemeinden Freiburgs aufbauen lassen. Sie wird als wahres Geschenk von den Eltern in zehn Bergdörfern geschätzt: 44 Jugendliche haben nun die Möglichkeit einer Sekundarschulausbildung. Das hervorragende ist, dass inzwischen die Hälfte der Anzahl Mädchen sind, die früher kaum eine solche Chance zum Besuch einer weiterführenden Schule hatten.
In dem Schülerwohnheim arbeiten auch immer wieder „Voluntarios“, also freiwillige Jugendliche aus Deutschland, für eine gewisse Zeit mit bei der Betreuung der Schülerinnen und Schüler.
Das besorgniserregende Ende – ein Toter
Am Ende der Messe kam eine Frau, die etwas später zum Gottesdienst gekommen war und berichtete ganz aufgeregt: der Fluss habe weiter unten im Tal einen Mann mitgenommen. Er trug angeblich einen blauen Rucksack und hatte eine weiße Hose an. Die Polizei wisse nicht, wer der Tote sei. „Könnte es Björn gewesen sein?“, so ihre bange Frage, die uns in große Sorgen und Entsetzen stürzte. Gestern Abend hatten wir noch mit ihm zusammengesessen. Sollte das wirklich wahr sein?
Björn hatte im Rahmen des Voluntario-Programms der Erzdiözese Freiburg in der Albergue vor Jahren mitgearbeitet und war immer wieder zu Besuchen ins Dorf zurückgekehrt. Just an diesem Sonntagmorgen war er um 5:00 Uhr zu Fuß aufgebrochen, denn vor zwei Tagen hatte der Checras-Fluss 20 Minuten unterhalb des Dorfes die Straße gänzlich weggespült. Der junge Mann wollte rechtzeitig nach Lima gelangen für seinen Rückflug nach Deutschland. Die Besorgnis und Aufregung war groß im ganzen Dorf.
Auf der Brücke des Rio Chico standen viele Bewohner und fragten, wer denn etwas von Björn gehört habe. Schließlich gelang es Konstantin eine Telefonverbindung nach Churin herzustellen und erfuhr, Björn sei gut über den Fluss gelangt. Die Nachricht beruhigte die Menschen sichtlich: Mir zeigte das, wie sehr die Voluntarios aus Freiburg in die ganze Dorfgemeinschaft integriert sind.
Mich wollte die Geschichte von dem Toten nicht loslassen. Ein Mensch, den der Fluss mitgenommen hatte! Ein Leben so rasch und schrecklich beendet. Nicht zuletzt infolge des von Menschen verursachten Klimawandels.
Der Einsatz für ein würdigeres Leben, „Schritte des Lebens“ tun für die durch den Klimawandel verletzlichen Gebiete der Erde, das bedeutet auch und gerade, entscheidende und wirksame Maßnahmen des Klimaschutzes umzusetzen. Auch in Deutschland. Durch unseren nachhaltigen Lebensstil. Durch eine konsequente Klimapolitik. Die Armen, die bereits jetzt Leidenden können nicht warten.
An der Brücke des Rio Chico, des Nebenflusses des Rio Chercas, hatten die Bewohner einen Scheinwerfer angebracht, um den Wasserstand des reißenden Bergflusses zu beobachten. Am Spätnachmittag des Sonntag hatte es am Oberlauf des Flusses heftig geregnet und einen Bergsturz gegeben. Nun tosten die erdbraunen Wassermassen ins Tal. Ein Bewohner sagte zu mir: „Padre, mach ein Foto und schick es nach Europa! Die sollen das sehen.“
Von Prälat Josef Sayer
Prälat Prof. Dr. Josef Sayer (geb. 1941) war über 14 Jahre lang Hauptgeschäftsführer und Vorstandsvorsitzender des Bischöflichen Hilfswerkes Misereor. Von 1981 bis 1988 lebte und arbeitete der in der Erzdiözese Cuzco inkardinierte Priester in Peru. Von 1988 bis 1998 war er Professor für Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg.