27 Vertreter der Diözesan-Bonifatiuswerke aus 15 Bistümern in Deutschland haben in den vergangenen Tagen Lettland bereist, um die katholische Kirche vor Ort kennenzulernen und um sich über die Projekte des Bonifatiuswerkes in Lettland zu informieren. Ohne die finanzielle Unterstützung durch die deutschen Katholiken und deren soziales Engagement könnten viele dieser Projekte nicht umgesetzt werden. Tobias Aldinger, Referent für das Diözesan-Bonifatiuswerk in Freiburg, schildert seine persönlichen Höhepunkte.
In zwei Stunden von Frankfurt nach Riga. Kurze Flugzeiten sind tückisch. Ich war jedenfalls noch nicht mit dem Herzen angekommen, als ich nach Flug und Busfahrt zum Hotel mit 26 anderen Vertretern des Bonifatiuswerkes meine Füße in die lettische Hauptstadt gesetzt hatte.
Meine Seele reiste erst nach, als ich aus dem Hotel in die engen Gassen der Altstadt Rigas schlenderte. Es ist dieses Reisegefühl, das ich so liebe: Der Duft des Unbekannten macht die Sinne wach und das Herz frei. Beste Bedingungen, um neue Perspektiven einzunehmen.
Die neuen Perspektiven bekam ich. Die sechs Tage waren gefüllt mit herzlicher Gastfreundschaft und spannenden Einblicken in das kirchliche Leben einer materiell armen Diaspora-Kirche. Aufgrund der Minderheitensituation in einem armen Land (das Durchschnittseinkommen liegt bei ca. 800 Euro im Monat) ist die lettische Kirche auf die Solidarität und die Spenden unter anderem der deutschen Katholiken angewiesen. Einige der dadurch finanzierten Hilfsprojekte im sozialen und pastoralen Feld haben wir besucht. Beeindruckt hat mich das Bethlehemhaus in Riga: Dort fanden seit Gründung im Jahr 2011 schon 450 Menschen mit einer Suchtkrankheit und mit anderen Notlagen einen Zufluchtsort und professionelle Hilfe, um ein neues Leben zu beginnen. Gegründet wurde das Rehabilitationszentrum von fünf engagierten Menschen aus der Pfarrei. Die Freiwilligen haben schlicht eine Not erkannt und darauf reagiert.
Hinschauen, Hinhören und Handeln – diese Dynamik habe ich bei allen Ehrenamtlichen der besuchten Hilfsprojekte entdeckt. Und das „Hinhören“ ist bei den Initiatoren immer ausdrücklich auch ein Hinhören auf Gott. Dieses sichtbare, gelebte Zeugnis im Glauben, die Verbundenheit mit den Menschen in Not und das Vertrauen auf die Begleitung Gottes haben mich in vielen Begegnungen beeindruckt.
Das Bonifatiuswerk fördert neben der Bauhilfe auch ein professionelles, einjähriges Therapieprogramm, zu welchem neben Gruppentherapien, kreativen Angeboten, Arbeitsdiensten und Gebetszeiten auch mehrere Aufenthalte auf einem Bauernhof außerhalb der Stadt gehören. Dort trafen wir einige Teilnehmer der Programms, die uns mit selbstgemachtem Ziegenkäse und Birkenwasser (ja, das kann man trinken) gastfreundlich empfingen. Ein 25 Jahre junger, sympathischer Mann erzählt mir in der einfachen Küche des Hofes seine Geschichte. Drei Jahre Alkoholsucht und Spielsucht, dann merkt er: „Alleine schaff ich das nicht.“ Seine Mutter bekam von ihrem Pfarrer den Hinweis, dass es das Betlehemhaus gibt. Stolz sagt er: „Morgen bin ich bei Tag 100 ohne Alkohol und Spielautomaten.“ Ich freue mich mit ihm und wünsche mir nach dieser Begegnung, dass die 20 Prozent „Erfolgsquote“ weiter ansteigen mögen, auch wenn diese im internationalen Vergleich hoch ist.
Neben weiteren vom Bonifatiuswerk unterstützten Einrichtungen, wie z.B. das Familien- und Exerzitienhaus in Livberze, das erste kontemplative Karmelkloster in Ikšķile und der Gefängnisseelsorge im einzigen Frauengefängnis Lettlands hat mich die leidvolle Geschichte des Landes berührt. Die Unabhängigkeit Lettlands seit 1918 hielt nicht lange an. Dass es in Riga ein eigenes „Okkupationsmuseum“ gibt, spricht Bände – ebenso der Begriff der Freiheit, der in Lettland einen ganz anderen Klang hat als bei uns. 1940 wird Lettland mit den baltischen Geschwistern unter Stalin in die UdSSR „einverleibt“, 1941 bis 1944 besetzen die Nationalsozialisten das Land.
Im Jahr der „Befreiung“ des Landes durch die Sowjets 1944 kam es schon zu den ersten Deportationen von Regimekritikern in die Straflager Sibiriens. Mit der „singenden“, friedlichen Revolution bekam das Land erst 1991 seine Unabhängigkeit zurück.
Am Mahnmal Bikernieki wurde uns ein Teil dieser leidvollen Geschichte bewusst: In diesem Waldstück begann (neben Kausas und Minsk) die massenhafte und systematische Ermordung der Juden im Nationalsozialismus. Mindestens 35.000 Menschen wurden hier zwischen 1941 und 1944 erschossen und in Massengräbern verscharrt. Die Aufarbeitung dieser Geschichte der Fremdherrschaft und menschlichen Gräueltaten ist bis heute schwierig.
Auf dem Hintergrund dieser Geschichte ist die Freundlichkeit und Bescheidenheit der Menschen in Lettland umso bewegender – beispielhaft erlebt beim Bischof von Jelgava, Edvards Pavlovskis. Als wir über die Situation der Kirche seines Landes sprechen, erzählt er auch – da er gefragt wurde – was der Jahreshaushalt seines Bistums ist. Die Zahlen beschämen mich. Umso mehr fasziniert mich der Reichtum an engagierten Christen und die Glaubenstiefe dieser armen Kirche. Auch mit wenig materiellen Ressourcen kann Kirche hinschauen, hinhören und handeln. „Beeindruckt hat mich vor allem, dass es hier in der Kirche mehr Hoffnungsträger als Bedenkenträger gibt.“ Diesem Statement des Generalsekretärs des Bonifatiuswerkes Monsignore Georg Austen kann ich nur zustimmen. Die Begegnungen in Lettland haben mich wieder ermutigt, der Dynamik des Evangeliums zu trauen. Dort, wo nach menschlichen Maßstäben nichts mehr geht, setzt unser Glaube einen neuen Hoffnungshorizont.
Von Tobias Aldinger, Referent für das Diözesan-Bonifatiuswerk in Freiburg.