„Das Gefühl, dass da gerade etwas gehörig schief läuft…“

Die Zeit im voll besetzten Gerichtssaal steht für einen Moment still. Ich versuche in den Gesichtern der Menschen um mich herum zu lesen, sehe Fassungslosigkeit, dann Tränen. Nach über einem Jahr, mehr als 40 Gerichtsverhandlungen und der wiederholten Beteuerung ihrer Unschuld sind sechs Landrechtsaktivisten aus dem Pujehun Distrikt im Süden Sierra Leones soeben zu drei bis sechs Monaten Haft verurteilt worden.

Die sechs Männer waren von einem internationalen Agrarinvestor wegen der angeblichen Zerstörung von Firmeneigentum angezeigt worden – genauer: wegen Verschwörung, Anstiftung und der Vernichtung von 40 kleinen Ölpalmsetzlingen. Ich brauche einen Augenblick, um zu verstehen. Grund ist nicht nur die im Prozess verwendete und mir noch neue Sprache Krio, sondern auch das Gefühl, dass da gerade etwas gehörig schief läuft. Ich blicke den sechs Männern nach, als sie sich vom Gerichtsgebäude zu Fuß auf den Weg in das gegenüberliegende Gefängnis machen. Es ist der 4. Februar 2016, ich bin seit knapp zwei Monaten in Sierra Leone – und schon mittendrin in meiner Arbeit als Fachkraft im Zivilen Friedensdienst (ZFD) der AGEH bei der Umwelt- und Landrechtsorganisation Green Scenery.

Seit 2011 wird immer wieder von Verleumdungen, Einschüchterungsversuchen und Verhaftungen im Zusammenhang mit der Agrarinvestition im Pujehun Distrikt berichtet. 18.000 Hektar und damit etwa die Hälfte des Distriktes sind seither Schritt für Schritt in eine riesige Ölpalmplantage umgewandelt und Proteste der Bevölkerung unterdrückt worden. Einwohner und Einwohnerinnen beklagen ihre fehlende Einbeziehung und die Intransparenz der Landvergabe ebenso wie die zu geringe Pachtzahlung. Die 5 US-Dollar, die der Investor pro Hektar zahlt, reichen nicht aus, um die Familie zu ernähren oder um die Kinder zur Schule zu schicken. Da die wenigsten Menschen in Sierra Leone über grundbuchamtliche Besitztitel verfügen, erhält ohnehin nur eine Minderheit die jährlichen Pachtzahlungen.

Die Verhaftung der sechs Landrechtsaktivisten löst eine Welle der Empörung aus, die weit über den Pujehun Distrikt hinausgeht. Solidaritätsaktionen in Sierra Leone werden von Menschen in aller Welt unterstützt. Bei Green Scenery stürzen wir uns in die Arbeit. Über Online-Petitionen sammeln wir Unterschriften und bitten den sierra leonischen Präsidenten um die Freilassung der Gefangenen. Eine parallele Spendenkampagne ermöglicht es uns, nach und nach alle sechs Männer aus der Haft freizukaufen.

Über 120.000 Unterschriften und rund 35.000 Euro später wissen wir: Die Kampagne war ein voller Erfolg. Was jedoch bleibt, ist das Gefühl, dass noch viel zu tun ist, damit anstelle einer Schadensbegrenzung eine wirkliche Lösung der Landkonflikte in Sierra Leone tritt.

Von Sandra Koch

Hintergrund

Weitere Informationen zum Fall der verhafteten Landrechtsaktivisten in Sierra Leone:

Kategorie Klartext

Seit Dezember 2015 lebt und arbeitet Sandra Koch als Fachkraft im Zivilen Friedensdienst der Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe (AGEH) e.V. in Sierra Leone. Zusammen mit ihrer Partnerorganisation „Green Scenery“ setzt sich die Politikwissenschaftlerin für die faire Verteilung und den Schutz natürlicher Ressourcen ein.

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