Waren Sie schon einmal in Jerusalem? Ja? Welcher Ort bildet aus Ihrer Sicht das Herz der Stadt? Wo kristallisiert sich alles, was diese Stadt ausmacht? Ich ahne schon Ihre Antwort: der Tempelberg – bzw. der Haram asch-Scharif, das edle Heiligtum, wie ihn die Muslime nennen. Und da haben Sie natürlich Recht. Dieser Berg verkörpert die Sehnsüchte von Juden und Muslimen zugleich, Klagemauer und Felsendom berühren sich quasi. Nirgendwo kann man in die Geschichte der Stadt tiefer abtauchen als an diesem Ort.
Vielleicht haben Sie aber auch einen anderen Berg im Kopf – einen, der insbesondere für Christen der Schicksalsort schlechthin ist: Golgatha. Der Ort der Kreuzigung Jesu, nur einen Steinwurf vom Tempelberg entfernt. Und direkt daneben das leere Grab Jesu. Wie eine Blutader mäandert die Via Dolorosa, der Kreuzweg Jesu, durch die Gassen der Altstadt von Jerusalem und endet genau hier, in der Herzkammer des Christentums. Golgatha und Grab direkt beieinander, Karfreitag und Ostersonntag nur zwanzig Schritte voneinander entfernt – hier schlägt das Herz des christlichen Jerusalem.
Tränen und Triumph auf dem Herzl-Berg
Und dann gibt es noch einen dritten symbolträchtigen Berg in Jerusalem, den Herzl-Berg. Der ist den Deutschen vielleicht nicht so geläufig wie die anderen beiden, für das Verständnis der modernen jüdischen Geschichte jedoch umso bedeutender. Auf dem Herzl-Berg liegen die Großen der Nation begraben: Theodor Herzl, Golda Meir, Jitzchak Rabin, Teddy Kollek, Shimon Peres. Vor allem wird auf dem Herzl-Berg aber der Millionen gedacht, die in der Shoa umgebracht wurden. Die Gedenkstätte Yad Vashem ist damit auch ein Herz Jerusalems. Holocaust und Heldenfriedhof, Tränen und Triumph liegen in der Stadt nirgendwo so nah beieinander wie auf diesem Berg der Erinnerung.
Will man jedoch das heutige Jerusalem verstehen, dann muss man an einen ganz anderen Ort gehen, wesentlich unscheinbarer und selbst den meisten Israel-Pilgern völlig unbekannt. Oder haben Sie schon einmal etwas vom Pariser Platz gehört? Und doch ist es genau dieser Platz, der in diesen Tagen das Herz der Stadt bildet. Hier kristallisiert sich alles, was man über Jerusalem wissen sollte – und doch nur schwer verstehen kann. Ein Blick in die letzten Tage reicht aus.
Jüdischer Protest gegen Einwanderungsverbot für Muslime in den USA
Es fängt an mit einer E-Mail, die mir Jonatan, ein Kollege von der Universität, weiterleitet: „Kundgebung gegen Trumps Einwanderungsverbot – kommt alle um 20 Uhr zum Pariser Platz“. Und ich komme, allein schon aus Neugier. Wer wird sich hier wohl versammeln, um gegen Trumps islamfeindliche Einwanderungspolitik zu demonstrieren? Ausgerechnet Juden in Jerusalem? Genauso ist es. (Sie können es hier nachsehen). Die jungen Demonstranten – Jonatan ist natürlich auch mit seiner Familie gekommen – haben sich am Pariser Platz geschickt aufgereiht. Ein Teil skandiert in Richtung Osten, wo das amerikanische Konsulat in Sichtweite liegt. Und der andere Teil in Richtung Süden, wo sich ein paar Meter weiter die Residenz von Benjamin Netanjahu befindet. Viele machen sich Sorgen über diese unheilige Allianz zwischen Jerusalem und Washington. Jüdische Israelis, die gegen ihren Ministerpräsidenten für die Rechte von Muslimen eintreten – auch das ist Realität in Jerusalem.
Es geht aber noch weiter. Schon einige Stunden später steht der Pariser Platz wieder im Mittelpunkt. Am Morgen nach der Anti-Trump-Kundgebung werde ich von hupenden Autos geweckt. In meiner Straße hat sich mal wieder ein Stau gebildet – eigentlich nichts Ungewöhnliches für diese Uhrzeit, Jerusalem platzt aus allen Nähten. Heute ist die Schlange der Autos jedoch länger als normal. Als ich vor die Tür trete, weht mir außerdem ein unangenehmer Geruch in die Nase. Ich mache mich auf den Weg zur Bushaltestelle, von der ich immer Richtung Uni aufbreche. Ein Müllwagen hat die Straße blockiert, daher das Chaos. Ich gehe weiter und entdecke noch einen Müllwagen mitten auf der Straße, und noch einen, und noch einen. Bei 38 Müllwagen höre ich auf zu zählen, das ganze Viertel haben sie stillgelegt. Polizisten rennen nervös hin und her, aber sie sind machtlos.
Der Müll vor Bibis Haustür
Der Grund für den Streik der Müllwerker: die Stadt hat ihnen ihre Gehälter nicht bezahlt. Und nicht nur ihnen, sondern allen Angestellten der Stadt. Zwischen dem Finanzministerium und der Stadtverwaltung kriselt es, die Angestellten müssen es ausbaden. Ich laufe also die Straße weiter hoch Richtung Pariser Platz, wo sich Hunderte Menschen versammelt haben. Die Müllwagen dienen als Tribüne, die Stimmung ist friedlich. Erst spricht ein jüdischer Vertreter, dann kommt ein Müllwerker aus Ostjerusalem, also dem arabischen Teil der Stadt, an die Reihe. Heute ist egal, aus welchem Stadtteil man kommt, alle wollen zusammen den Müll vor Bibis Haustür – also der Residenz des Ministerpräsidenten – abladen.
In diesen Tagen ist der Pariser Platz das Herz von Jerusalem. Israelis treten für die Religions- und Reisefreiheit von Muslimen ein, Juden und Araber wehren sich gemeinsam gegen ungerechte Löhne, scheinbare Gegensätze lösen sich in Luft auf. Jerusalem ist also komplexer als man denkt. Klagemauer und Felsendom, Golgatha und Grabeskirche, Trauer und Triumph, Ost und West – alles muss man hier zusammendenken. Das ist das Herz von Jerusalem – mit zwei Kammern, mindestens.
Von Gregor Buß
© G. Buss
Gregor Buß lebt seit 2015 in Jerusalem und arbeitet an der Hebräischen Universität.
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