Peru leidet zurzeit unter den schwersten Überschwemmungen seit Jahrzehnten. Der ehemalige Misereor-Geschäftsführer Josef Sayer war eigentlich zu einem Termin in der Hauptstadt Lima angereist, doch dann besuchte er die Gebiete der Betroffenen.
100 Jahre Katholische Universität Peru: die Einladung zu dieser Feier führte mich nach längerer Zeit nach Lima. Die Katholische Universität ist eine der besten und angesehensten des Landes mit einem guten Ruf in ganz Lateinamerika. Während der würdigen und aufgrund der guten Lösung dankbaren Feier wurde immer wieder auch Bezug genommen auf die katastrophale Notlage des Landes angesichts des Klimaphänomens „El Niño“: das Leiden der Menschen griff Gustavo Gutierrez als Festredner auf und verband es mit der Option für die Armen. Die schrecklichen Folgen des Klimawandels werden nicht erst in zirka 50 Jahren auftreten. Peru leidet bereits jetzt darunter und die Katholische Universität zeigt sich mit verschiedenen Aktivitäten solidarisch.
Wenn Zuviel an Wasser schlagartig zu Zuwenig Wasser wird
In den Nachrichten hatte ich von Überschwemmungen gehört, von Toten, Zerstörung von Häusern und Straßen als Auswirkungen des Klimawandels in Peru. In der deutschsprachigen Gemeinde, wo ich zum 50-jährigen Bestehen die Festpredigt halten sollte, und in Miraflores, Lima, war jedoch nichts zu spüren, im Gegenteil – es gab Sonnenschein und es war heiß. Für einen Besucher aus Deutschland, wo es vor meiner Abreise noch kalt war, hätte es ganz angenehm sein können. Wäre da nur nicht ganz plötzlich und aus dem wirklich heiteren Himmel das Wasserproblem aufgetreten. Die zirka Neun-Millionen-Stadt Lima war plötzlich ohne Wasserversorgung – fünf Tage lang! In Deutschland wäre das geradezu undenkbar. Die Stadt ist gut doppelt so groß wie Berlin und dann plötzlich kein Wasser mehr? Unvorstellbar!
Dadurch veränderte sich das Leben grundlegend. Mich erinnert das an unsere Zeit als Pastoralteam, als ich als Pfarrer in den Elendsvierteln Limas, in Canto Grande, lebte und arbeitete: Wasser wurde dort in Tankwagen gebracht und in alten Benzinfässern aufbewahrt, zirca 170 Liter für drei Tage – für drei Personen! Jetzt also hatte es die ganze Metropole Lima erfasst und nicht nur, wie damals, die Elendsviertel. Schlimm war auch, dass das Abwasser nicht mehr funktionierte und damit die Klospülung. In einer Großstadt kann man ja nicht einfach hinter das Haus gehen, um sein „Geschäft“ zu verrichten.
Was war geschehen?
Starkregen in ungekanntem Ausmaß und von langer Dauer hatten in den Anden die Flüsse plötzlich über die Maßen ansteigen lassen. Sturzbächen gleich, rissen sie alles mit sich und beschädigten unter anderem auch die Wasserversorgungsanlagen Limas, die sich aus solchen Andenflüssen speisen. Der Rimac-Fluss am Rande des Zentrums Limas hatte zudem die Wasserleitungszufuhrrohre für Canto Grande mit weit über eine Million Bewohnern zerstört. Hütten und Häuser von Armen, die sich im oder am Rande des Flussbettes niedergelassen hatten, wurden mitgerissen und viel Schlamm in diese Stadtgegend gespült.
Aber nicht nur Lima mit seiner vergleichsweise guten Infrastruktur war betroffen, wo die Regierung unmittelbar dafür sorgte, dass an bestimmten Stellen Trinkwasser in Flaschen besorgt werden konnte.
Viel schlimmer war und ist die Lage in den nördlichen Teilen Perus. Einer Zeitung vom 24. März entnahm ich: Die Anzahl der Toten auf 85 gestiegen, die von der Katastrophe Betroffenen: 670.000, unzählige Häuser beschädigt beziehungsweise zerstört oder durch das Hochwasser verschlammt und nicht mehr bewohnbar, 195 Brücken fortgespült, 711 Bewässerungskanäle zerstört und über 3.000 beschädigt, auf über 25.000 Hektar Land die Ernte vernichtet und über 11.000 Hektar für den Landbau verloren.
Was besagen solche Zahlen für mich, der sich in der deutschen Gemeinde in Miraflores aufhält, dort das 50-jährige Bestehen der Gemeinde feiert zu Ehren des Heiligen Josef, des Beschützers des Jesuskindes und dessen Mutter, mit denen er nach Ägypten fliehen musste, um das Leben des Kindes zu retten? Sich mal fünf Tage nicht duschen können, auch wenn man in der Hitze Limas schwitzt – was ist das schon angesichts des immensen Leidens von Müttern und Vätern mit ihren kleinen Kindern in einem riesigen Überschwemmungsgebiet, das sich hinter den nüchternen Zahlen verbirgt. Wohin sollen diese fliehen? Wo können sie sicher sein? Wie schaffe ich es, dass ich diese Fakten nicht einfach so aufnehme wie ich sie in der Tagesschau oder den Heute-Nachrichten zu sehen bekomme und zum Abhaken geneigt bin?
Die Begegnung mit Betroffenen
Mit dem seit vielen Jahren in Peru lebenden Fidei-Donum-Priester Wilfredo konnte ich am 25. März in seine Pfarrei in einem Hochandental mitfahren. Zunächst war es unklar, ob wir überhaupt dorthin gelangen konnten: auch dort gab es Bergstürze. Aber der größte Unsicherheitsfaktor war, dass die ungewöhnlichen Starkregen den Fluss so sehr hatten anschwellen lassen, dass er in einer breiten Schneise ins Tal schoss, Brücken mitriss, die Straße an mehreren Stellen zerstörte und an einer Stelle zirca 400 Meter wegschwemmte.
Der erste Teil unserer Fahrt in einem Flusstal, den sogenannten Rio Seco aufwärts, wo seit Langem kein Wasser mehr geflossen war, zeigte uns die Gewalt der Wassermassen: drei Tage vorher hätten wir hier nicht fahren können, das Tal stand total unter Wasser. Wir konnten die Schäden nicht nur an der Straße feststellen, sondern vor allem an den Bewässerungskanälen für die Landwirtschaft. Sie leiteten von hoch oben aus den Anden das Wasser in dieses Wüstental für die Landwirtschaft. Der plötzlich entstandene Fluss hatte die Ernte weggeschwemmt und die Zitrusplantagen schwer beschädigt. Vor allem hatte er von oben Sand, Geröll und Schlamm über den Feldern abgeladen. Diese wieder instand zu setzen ist eine Herkulesaufgabe.
Ein Bretterverschlag über wild tosenden Wassermassen
In der Pfarrei, die den Tälern von Padre Wilfredos Gebiet am nächsten liegt, ließ er sein Auto stehen. Ein Freund von ihm brachte uns rund 40 Kilometer weiter hoch, an die Stelle der Pfarrei Wilfredos, wo der Fluss die Straße etwa 400 Meter fortgerissen hatte und es kein Durchkommen gab.
Unterwegs machten wir Halt bei Menschen, bei denen der Fluss die Brücke mitgenommen hatte. An einem Drahtseil hatten sie inzwischen einen Bretterverschlag befestigt und zogen nun Mensch und Güter von einer Seite zur anderen. Angel, ein vierjähriger kleiner Junge, klammerte sich angstvoll an seinen Vater, als es über die wild tosenden, erdbraunen Wassermassen ging. Plötzlich kam der Bretterverschlag in der Mitte des Flusses zum Stehen – was mag in dem Jungen in diesem Moment vorgegangen sein?
Rechtzeitig um 12 Uhr gelangten wir an den Ort, wo der Fluss nun das ganze Tal ausfüllte, nachdem er die Straße und den Bewässerungskanal fortgespült hatte. Mit uns waren eine Schlange von Bussen, Kombi-Wagen und Autos angekommen. 500 Meter weiter oben im Tal wartete bereits eine große Menschenmenge, die talabwärts wollte, also dahin, wo wir waren und umgekehrt wollten wir nach oben. Wie im Straßenverkehr galt auch hier: bergauf hat Vorfahrt.
Ein Mädchen namens „Maria Fe“
Die Situation war nun deshalb so prekär, weil der Durchlass nur eineinhalb Stunden offen stand und es ja weder Weg noch Fußpfad gab. Es galt, sich also zu beeilen. Über Geröll und Felsen bewegten wir uns in einer langen Schlange voran: rechts ein abschüssiger Felsenhang und links der tosende Fluss. Frauen mit Babys im Tragetuch, Männer allerlei Gepäck schleppend, Kinder mit Schulranzen auf dem Rücken. Einen Mann mit einem kleinen Mädchen auf den Schultern fragte ich nach dessen Namen: „Maria Fe“, antwortete er. Nomen est Omen. Viele Menschen, die sich wohl noch nie begegnet waren, bildeten eine Schicksalsgemeinschaft und halfen einander. Solidarisch, ganz selbstverständlich in dieser Notlage. Gelebter Glaube kam hier zum Ausdruck, wie der Name des Mädchen es bezeichnete: Einen anderen Mann, ebenfalls mit einem Kind auf den Schultern, hatte ich gleichfalls gefragt: „Den Namen kenne ich nicht, ich habe das Kind einer Frau abgenommen, damit sie leichter über die Felsen klettern kann.“
Vor mir sah ich einen alten Mann, dem zwei andere einen Strick um Brust und Rücken gelegt hatten, um ihn vor dem Abgleiten in den Fluss zu sichern und auch um ihn besser über Felsspalten zu hieven. Am Ende der beschwerlichen Tour konnte er sich endlich setzen und ausruhen, denn die talwärts Drängenden mussten ja ebenfalls noch zu ihrem Ziel gelangen. Für 300 Meter hatten wir eine gute Stunde gebraucht. Francisco, so der Name des alten Mannes, war 91 Jahre alt und auf dem Weg zurück in seinen Heimatort in Höhe von über 3.600 Metern in den Anden. Seine Helfer heißen Lorenzo und Daniel, aber auch andere hatten bei besonders schwierigen Stellen mit geholfen wie etwa Konstantin, Mario und Willy.
Allerlei Gedanken gehen einem bei solchen Begegnungen durch den Kopf: Wo kommt die Frau ein paar Schritte vor mir mit ihrem Gepäck auf dem Rücken und einem Kind an der Hand wohl her, was bewegt sie, den beschwerlichen Weg gerade jetzt auf sich zu nehmen? Oder ein abgeschnittenes Tal mit vielen Gemeinden: Was bedeutet das insbesondere für die Kranken, die dringend Hilfe brauchen und in die nächste Stadt müssten – etwa mit einer Blinddarmentzündung. Nicht alles, etwa eine Geburt mit Komplikationen, lässt sich aufschieben, bis die Starkregen und Regenzeit zu Ende sind, der Fluss wieder seinen normalen Pegel hat und die Straße gerichtet ist.
Padre Wilfredo hat Freunde hier, die sich selbstlos um die Schwächeren kümmern. Seine jahrelange Arbeit trägt Früchte, gerade in solchen Situationen. Bei dem Blick auf den Fluss denke ich auch an die Fische, wie sie wohl in dieser Dreckbrühe und der überstarken Strömung zurechtkommen.
Und der Staat?
Bisher hat diese Regenzeit 20 Prozent des Straßennetzes Perus in Mitleidenschaft gezogen oder zerstört, wie der Vizepräsident Perus in einem Interview sagte. Wer allein dieses Faktum bedenkt, wird weiterfragen, welche riesigen zusätzlichen Aufgaben auf den Staat und das Gemeinwesen zukommen und wo diese dafür aufzuwendenden Mittel hätten eingesetzt werden können für eine gerechtere Entwicklung in einem Land mit einer großen Kluft zwischen Arm und Reich.
Der Regen dauert an. Die Überschwemmungen im Norden bedrohen das Leben nach wie vor. Tote und Verletzte, die von Schlamm heimgesuchten Häuser, in denen Menschen nicht mehr wohnen und kochen können, der Hausrat dahin. Wo und wie werden diese Menschen wohl schlafen? Ein Ausmaß an Leid – vor allem für Mütter und Väter mit kleinen Kindern, für die Kranken und Alten gerade in den flachen Überschwemmungsgebieten im Norden Perus, wo die Wassermassen stehen und nur allmählich abfließen.
Wer trägt Schuld, wer hat versagt?
Diese Fragen werden nun in aller Öffentlichkeit diskutiert: die Regierung, die Vorgängerregierung, die Bürgermeister, Landräte, Provinzgouverneure, die Landspekulateure? Wer trägt die Schuld?
Oder gar die Betroffenen selbst? Warum haben sie sich an den Flussrändern des Rimac in Lima überhaupt niedergelassen? Solche teilweise erwiesenermaßen gefährlichen und für den Hausbau verboten Flächen in Flussnähe oder Überschwemmungsgebieten wurden von den Armen besetzt und die kommunalen und staatlichen Ämter haben es geduldet. Arme können sich ja schwerlich sichere Wohngebiete leisten im Unterschied zu den Reichen in den Städten. Als eine Frau aufgefordert wurde, umzusiedeln, antwortete sie: „Wohin denn? Sie wollten mich weit weg von der Stadt bringen, aber wie soll ich von dort auf den Markt zum Arbeiten gelangen, um meine Kinder durchzubringen und sie auf die Schule zu schicken?“
Die unausweichliche Frage nach dem Klimawandel
Der Klimawandel ist ein wichtiges Stichwort bei der Frage nach den Ursachen der desaströsen Verhältnisse und nach der Schuld. Das Meer vor der Küste im Norden Perus weist eine Temperatur von 29 Grad Celsius auf – Badewassertemperatur sozusagen. Diese 29 Grad mit ihren Verdunstungseffekten, Starkregen etc. kamen ja nicht dadurch zustande, dass die Armen für ihr Frühstück und Mittagessen – sofern sie überhaupt mehr als eine Mahlzeit pro Tag zur Verfügung haben – sich ihr bisschen Essen kochten.
An diesem Punkt holt uns in den reichen Ländern die Debatte um den Klimaschutz, die Verminderung der Treibhausgase und die Transformation der Ökonomie ein. 2016 hat der Ausstoß von CO2 in Deutschland zugenommen, anstatt dass er – wie es laut Plan hätte geschehen sollen – abgesenkt wurde. Die Umsetzung der UN-Klimavereinbarung von 2015 in Paris wird mehr und mehr auf die lange Bank geschoben.
Auf meinem Handy erreicht mich soeben die Nachricht: „Trump hebt den Klimaschutzplan Obamas per Dekret auf. Beschränkungen für die Kohleindustrie sollen fallen.“ Kopfschütteln hilft da nicht weiter. Ich denke auch an die Braunkohlepolitik der Bundesregierung, das Gezerre um den Klimaschutzplan Deutschlands vor der UN-Konferenz in Marrakesch. Kurzfristige wirtschaftliche und Wahlkampf-Interessen gewinnen immer wieder die Oberhand vor dem langfristig Notwendigen, um die Gemeingüter wie Klima, Wasser, Luft und Land zu schützen und die Schöpfung auch für die kommenden Generationen lebensfähig zu erhalten.
Papst Franziskus hat in seiner Enzyklika „Laudato si‘“ eindringlich beschrieben und aufgezeigt, wie der Schrei der Erde und der Schrei der Armen miteinander verbunden sind. Die gefährdete Lebensqualität der Armen, die wir bei unserer schwierigen Tour zwischen Felswand und tosendem Fluss erlebten, lässt sich nicht mehr trennen von unserem Lebensstil und unseren Modellen des Wirtschaftens. Der Kampf gegen den von Menschen verursachten Klimawandel duldet keinen Aufschub. Menschliche Würde verlangt es, das gemeinsame Haus auch gemeinsam bewohnbar zu erhalten, auch im Hinblick auf die Kinder, Enkel und kommenden Generationen.
Von Josef Sayer
Prälat Prof. Dr. Josef Sayer (geb. 1941) war über 14 Jahre lang Hauptgeschäftsführer und Vorstandsvorsitzender des Bischöflichen Hilfswerkes Misereor. Von 1981 bis 1988 lebte und arbeitete der in der Erzdiözese Cuzco inkardinierte Priester in Peru. Von 1988 bis 1998 war er Professor für Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg.
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