Anfangs hat sich hartnäckig das Gerücht gehalten, der Corona-Virus würde in der Höhe nicht überleben. Wir wiegten uns in Sicherheit und verfolgten einigermaßen interessiert die Nachrichten aus Deutschland. Nur ab und an regte sich im Kreis der Kollegen der Verdacht, dass Fälle ggf. nicht bekannt gemacht würden, da sich Bolivien schließlich mitten im Wahlkampf befindet. Am 11. März meldete das Land den ersten „importierten“ Fall in dem Bergbauzentrum Oruro. Hinzu kamen weitere Verdachtsfälle und schnell ergriff die Regierung weitreichende Maßnahmen. Mundschutz und Desinfektionsmittel wurden innerhalb von Stunden in vielen Läden zu Mangelware. Viele Eltern standen vor der Herausforderung, wie sie die Kinderbetreuung organisieren sollten, wenn die Schulen geschlossen sind. Nicht nur der fehlende Platz zum Spielen in den Häusern stellt ein Problem dar für die ärmeren Bevölkerungsteile, auch die Tatsache, dass die Schulspeisung nun entfällt, belastet das Budget vieler Familien. Ein weiterer Schritt, der in den ersten Tagen getan wurde, galt der Kurzarbeit. Allerdings führte diese Entscheidung dazu, dass die öffentlichen Transportmittel nun zu den Stoßzeiten noch voller waren, weil plötzlich alle Menschen zur selben Zeit ihren Arbeitsplatz verließen und nach Hause eilten. Mit steigenden Fallzahlen erließ die bolivianische Übergangsregierung weitere Dekrete, die die Bewegungsfreiheit der Menschen betrafen und vor allem bei den vielen Bolivianern, die selbständig sind oder im informellen Sektor arbeiten, auf Unverständnis stoßen.
Viele Stunden bevor die Präsidentin am 21. März vor die Kameras trat und eine 14-tägige Ausgangssperre verkündete, bildeten sich lange Schlangen vor den Supermärkten und die Lebensmittelpreise auf den Märkten schossen in die Höhe. Es war unklar, wie die Versorgung während der Ausgangssperre gesichert werden würde. Deshalb neigten auch hier manche Leute zu Hamsterkäufen, Händler fingen an, mit Marktpreisen zu spekulieren und verteuerten den Preis für einige Produkte. Während sich bei mir persönlich manchmal nur der Verdacht einstellte, dass die „Caserita“ (Marktfau) einen höheren Preis verlangt, weil sie mir ansieht, dass ich nicht von hier stamme, berichteten meine Kollegen in unserer ersten Videokonferenzschaltung von ähnlichen Erlebnissen. Der Samstag wurde allerorts nicht nur dazu genutzt, sich mit haltbaren Vorräten einzudecken, sondern hat uns in meiner Partnerorganisation auch dazu veranlasst, die Arbeit im Homeoffice zu organisieren. Laptops wurden in die privaten Wohnungen gebracht und Dateien auf Datenträgern gespeichert, um die Arbeit abseits des Büros erledigen zu können. Drei Tage später kam es dann noch härter. Der nationale Notstand wurde ausgerufen. Am Mittwochabend verkündete die Präsidentin, dass ab Mitternacht nur noch Menschen zwischen 18 und 65 Jahren der Ausgang erlaubt sei. Kinder und Alte sind damit völlig handlungsunfähig. Lediglich einmal pro Woche darf nun jeder die Wohnung verlassen, um vormittags Einkäufe zu erledigen – in meinem Fall mittwochs.
Vor Corona gab es die Arbeit im Homeoffice für die allermeisten Kollegen bei FOCAPACI nicht. Und wer zum ersten Mal von zu Hause arbeitet, kann nicht gleich die volle Leistung erbringen, zumal Logistik und Technik bei vielen meiner Kollegen eine Herausforderung darstellten. Über eine stabile Internetverbindung und einen ruhigen Arbeitsraum in der eigenen Wohnung zu verfügen gehört in El Alto und La Paz nicht zwingend zum Alltag. Nicht grundlos gehörte die Arbeit im Homeoffice also üblicherweise zu einem der Privilegien von mir, als ausländischer Fachkraft. Insofern wurde auch mein Vorschlag verworfen, eine Collage von uns Mitarbeitern an den jeweiligen Schreibtischen über unsere Kanäle in den sozialen Medien zu teilen, mit der ich zeigen wollte, wie wir im Homeoffice arbeiten.
Gerade in El Alto gibt es große Vorbehalte gegenüber der Ausgangssperre und der Hashtag #quedateencasa (bleib zu Hause) wird als Repression von oben verstanden. Wer sich nicht an die Anweisungen hält, dem droht eine Haftstrafe. So sollen am ersten Tag, nachdem der nationale Notstand ausgerufen wurde, 1.200 Menschen von der Polizei festgenommen worden sein. Als ich heute früh im Deutschlandfunk hörte, dass NRW die Haftstrafe wegen Corona ggf. aussetzen will, wurde mir einmal mehr die Unverhältnismäßig der Sicherheitspolitik der harten Hand, wie sie momentan in Bolivien betrieben wird, bewusst. Eine Haft von bis zu 10 Jahren bei Vergehen gegen die Ausgangssperre kann in Bolivien leicht politisch missbraucht werden.
Die Eindämmung des Virus scheint hierbei nicht der treibende Faktor zu sein. Insbesondere Menschen, die täglich ihr Überleben sichern müssen, und Oppositionelle reagieren dünnhäutig auf die Ausgangssperre und stellen die Entscheidung der nationalen Regierungschefin in Frage. Die Kritik verbreitet sich über die sozialen Medien. Und es bleibt mir tatsächlich die Frage, wie eine Familie, die normalerweise von den Tageseinnahmen lebt, eine mehrwöchige Vollquarantäne überleben kann. Und wird selbige Familie, wenn sie einen Infizierten zu beklagen hat, von dem weitestgehend privatisierten Gesundheitssystem versorgt?
Witze, die Euch in Deutschland in Zeiten von Corona zum Lachen bringen, würden hier wohl kaum verstanden. Dass Klopapier in El Alto gehortet wird, ist mir jedenfalls noch nicht zu Ohren gekommen. Die Probleme und Nöte sind anders gelagert.
Auch Frauenrechtlerinnen beklagen die Maßregelungen führender Politiker, da durch die Ausgangssperre häusliche Gewalt massiv zunehmen wird. Die Präsenz von Polizei und Militär auf den Straßen lässt Erinnerungen an die Krise im November 2019 wach werden. Damit erzeugt man keine Bürger-Solidarität oder Einheit im Land, sondern spaltet.
Ein Ergebnis, was wir in kürzester Zeit in Heimarbeit produziert haben, ist ein Flyer in einfacher Sprache, in dem wir kultursensibel über den Coronavirus informieren wollen. Als nächstes prüfen wir die Machbarkeit von Online-Schulungen. Hier stellen sich Fragen nach der Didaktik und der technischen Ausstattung unserer Zielgruppen. Ich freue mich schon auf die Diskussion mit den Kollegen per Videokonferenz über die Möglichkeiten und Grenzen von Änderungen im Projektplan, wobei wir solch eine Pandemie, wie wir sie momentan erleben, natürlich nicht bedacht haben.
Die Rückholaktion der deutschen Bundesregierung hätte auch mir die Möglichkeit geboten nach Deutschland zurück zu reisen. Vorerst habe ich nicht von diesem Angebot Gebrauch gemacht. Ich weiß jedoch, dass ich diese Entscheidung täglich revidieren könnte. Zurzeit erscheint es mir vernünftiger, hier der Dinge zu harren und mich mit meiner Partnerorganisation und den Menschen in Bolivien solidarisch zu zeigen. Würde ich zu einer gefährdeten Personengruppe zählen, sähe die Entscheidung möglicherweise anders aus, denn das Gesundheitssystem in Bolivien droht zu kollabieren und als Single fern der Familie krank zu werden verstärkt mit Sicherheit das Gefühl der Einsamkeit.
Inzwischen wurde übrigens entschieden, dass die Wahlen, die für den 3. Mai geplant waren, verschoben werden. Diese Entscheidung wurde glücklicherweise über alle Parteigrenzen hinweg im Konsens gefällt. Damit ist zumindest ein Konfliktpotenzial gemindert. In den Nachrichten heißt es, 70 Personen seien mit dem Coronavirus infiziert und täglich werden neue Verdachtsfälle gemeldet. Demgegenüber stehen landesweit 35 Quarantäne-Betten in Kliniken zur Versorgung von Corona-Patienten. Tote gibt es bislang noch keine und jüngst verbreitete sich die hoffnungsvolle Nachricht, dass eine an Corona erkrankte Bolivianerin in Italien genesen ist.
Von Esther Henning
Esther Henning unterstützt und berät als Friedensfachkraft des Internationalen Christlichen Friedensdienstes Eirene die Partnerorganisation FOCAPACI in El Alto, Bolivien. FOCAPACI gestaltet partizipative Dialogprozesse mit gesellschaftlichen Gruppen, um die Gewalt zwischen ihnen zu überwinden und gerechte Verhältnisse zu schaffen.
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