2016 ist die Zahl neu angekommener Flüchtlinge in Deutschland massiv zurückgegangen. Derweil fliehen weiter viele Menschen aus Afghanistan. In Deutschland sind sie aktuell die zweitgrößte Gruppe aller, die Antrag auf Asyl stellen. Trotz erheblich erschwerter Bedingungen auf den Fluchtrouten gelangen sie auch zu uns. Vor ein paar Tagen ist offenbar wieder damit begonnen worden, 50 Geflüchtete aus Afghanistan von Deutschland aus in ihre Heimat abzuschieben, unter ihnen sowohl freiwillige Rückkehrer als auch abgelehnte Asylbewerber. Weitere sollen bald folgen. Begründet wird dies damit, dass es, wie aus dem Bundesinnenministerium zu hören ist, „in Afghanistan Regionen gibt, in denen man sicher leben kann“.
Wer die Realität Afghanistans der letzen Jahre und Monate kennt, ist angesichts einer solchen Zuschreibung irritiert. Offenbar wird aber, wohl in Anbetracht des hohen Anteils von Afghanen unter den Asylsuchenden in Deutschland und vor dem Hintergrund der 2015 deutlich gestiegenen Gesamtzahl aller zu uns Geflüchteten, nun etwas zur Realität erklärt, was anhaltende militärische und zivile Operationen sowie Finanzhilfen in Milliardenhöhe bislang nicht geschafft haben: Afghanistan zu einem zumindest in Teilen sicheren Herkunftsland zu machen. Vermag also die schiere Zahl der bei uns schutzsuchenden Menschen gepaart mit dem erkennbar großen politischen Wunsch, diese an „Obergrenzen“ anzupassen und „Handlungsfähigkeit“ zu zeigen, die Wirklichkeit so zu verändern, dass diese zum Wunsch passt?
Humanitäre Versorgung für 1,9 Millionen Menschen
Die in diesem Jahr deutlich gesunkene Anerkennungsquote von afghanischen Asylanträgen seitens des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge deutet zumindest darauf hin, dass diesem Wunsch stattgegeben werden soll. Konsequent wird auch immer stärker die politische Forderung laut, Menschen jetzt vermehrt nach Afghanistan abzuschieben. Wunsch und Wirklichkeit passen aber dennoch nicht zusammen.
Die afghanische Alltagsrealität ist weiterhin von extremer Unsicherheit geprägt – was vor allem schlecht für die Menschen ist, um deren Schutz und Sicherheit es ja geht: 2015 galt in Afghanistan bereits als das blutigste Jahr für Zivilisten seit Beginn entsprechender Aufzeichnungen, in 2016 setzte sich dieser Trend unverkennbar fort. Die UN-Mission für Afghanistan verzeichnete im ersten Halbjahr 2016 den höchsten Stand ziviler Opfer des bewaffneten Konflikts seit 2009: Durch den Bürgerkrieg starben demnach 1.601 Menschen, 3.565 wurden verletzt. Inzwischen gibt es in 31 von 34 Provinzen Binnenvertriebene infolge von Gewaltkonflikten. In Kabul bewegen sich die allermeisten Ausländer nur noch in gepanzerten Fahrzeugen oder Helikoptern und schlafen in festungsähnlich ausgebauten Unterkünften. Angst vor Anschlägen und Entführungen ist also für alle sichtbar der tägliche Begleiter westlicher Ausländer.
Um wieviel mehr muss der komplette Mangel an Sicherheit die Afghanen selbst treffen, insbesondere diejenigen, die durch Gewalt und Naturkatastrophen zu Vertriebenen im eigenen Land geworden sind? Deren Gesamtzahl schätzen die Vereinten Nationen auf insgesamt 1,8 Millionen bis Ende 2016. Die UN schlugen schon im September 2016 Alarm, weil sie eine humanitäre Katastrophe befürchteten. Denn derzeit werden infolge der unerwartet hohen Zahl von Rückkehrern aus Pakistan, die von dort aktuell forciert zurückgetrieben werden, vermehrt Hilfsbedürftige registriert. In Afghanistan mussten laut UNHCR diesen Winter 1,9 Millionen Menschen mit Nahrungsmitteln versorgt werden.
Wunschdenken verändert nicht die Realität
Viele sowohl der Zwangsrückkehrer aus Pakistan als auch der Binnenvertriebenen treibt es aus Angst vor den Taliban, den Terrorgruppen des sogenannten IS und aus purer Not in die Hauptstadt Kabul, deren Elendsgürtel permanent anwächst. In ihre angestammte Heimat können die Wenigsten zurückkehren. Die Regierung in Islamabad hat alle Aufenthaltsgenehmigungen von Afghanen und afghanischstämmigen Familien in Pakistan zum Ende des Jahres 2016 für ungültig erklärt. 1,5 Millionen Afghanen, die sich zum Teil seit Jahrzehnten dort als registrierte Flüchtlinge aufhalten, leben damit ab Januar illegal im Land.
Der Krieg in Afghanistan verläuft so heftig wie lange nicht, und zu Gewalt und Tod gesellen sich ökonomische wie politische Perspektivlosigkeit. Viel zu wenig wurde für die Schaffung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen getan, die derzeitige afghanische Regierung zeigt sich zerrissen und kaum handlungsfähig. Kein Land der Welt kennt länger als Afghanistan ein seit Generationen andauerndes Kriegsgeschehen, und kein anderes hat so viele Flüchtlinge hervorgebracht. Entsprechend der Prognosen des UN-Sicherheitsrats haben sich in der letzten Zeit tatsächlich die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Taliban und afghanischen Sicherheitskräften weiter verschärft.
Diese Gesamtsituation und die wachsenden Schikanen in Pakistan gegenüber den dort lebenden afghanischen Flüchtlingen werden den Druck auf die Menschen, jenseits der Grenzen ihres Heimatlandes Sicherheit zu suchen, gewiss nicht mindern. Es ist eine Illusion, zu glauben, der Druck der Verhältnisse, der seit Jahren Menschen aus Afghanistan in die Fremde treibt, würde dadurch nachlassen, dass man die Lage schönt.
Deshalb sind Zwangsabschiebungen in einen solchen Alltag unverantwortlich und unmenschlich – und sie beruhen auf Wunschdenken, das an der Wirklichkeit nichts ändern wird. Jeder würde sich wünschen – die Afghanen zuallererst -, dass Afghanistan tatsächlich ein sicheres und Zukunft eröffnendes Land wäre. Die Wirklichkeit sieht anders aus, und sie ist sehr grausam.
Von Dr. Martin Bröckelmann-Simon
Dr. Martin Bröckelmann-Simon (59) ist seit 1999 Vorstandsmitglied von Misereor, ständiger Vertreter des Hauptgeschäftsführers und für den Bereich Internationale Zusammenarbeit zuständig.