Die Sonne ist fast untergegangen, doch in Tumaco sind noch unzählige Menschen unterwegs. Barfuß kicken sich ein paar Kinder einen uralten Fußball zu. Immer wieder verschwindet er unter den Stelzenhäusern aus Holz, inmitten von Müll, Strandgut und Schlamm. In den Häusern wird Fisch gebraten, mit Kochbananen und feiner Kokossoße. Motorradhupen sind zu hören, Hundegebell und Kinderlachen, vor allem aber laute, sehr laute Musik. Die Hip-Hopper des katholischen Jugendzentrums proben ihre neuen Texte. „Wir sagen NEIN zur Gewalt, zu Zwangsrekrutierung und Menschenrechtsverletzungen …“ schallt es aus dem Centro Afro, das seit sieben Jahren viel mehr ist als nur mein Arbeitsplatz.
Unsere Jugendlichen sind fast alle Vertriebene des bewaffneten Konflikts, der in den letzten 50 Jahren hunderttausende Kolumbianer das Leben gekostet hat. Aus den Dörfern des Umlands sind sie mit ihren Familien hierhergekommen, um ein neues Leben zu beginnen. Doch die allermeisten wurden schwer enttäuscht. Tumaco gehört zu den Orten mit der höchsten Mordrate in ganz Kolumbien. Die Arbeitslosigkeit liegt bei über 70 Prozent, und weniger als 3 Prozent der Bevölkerung haben je eine Universität besucht. So wachsen auch die Jugendlichen des Centro Afro inmitten von wirtschaftlicher Not, Perspektivlosigkeit und Gewalt auf. „Ich habe meinen Bruder verloren, und auch manche Freunde ruhen schon in Frieden“, singt die 23-jährige Neisy mit fester Stimme ins Mikro. Ihr Bruder wurde vor fünf Jahren am hellichten Tag von einem Soldaten erschossen. So singen sich Neisy und ihre Freunde ihre Angst und Wut ebenso von der Seele wie ihren Traum von einer Zukunft in Frieden.
Das Centro Afro wurde vor acht Jahren von einer Gruppe visionärer Jugendlicher mit der Unterstützung der Comboni-Missionare ins Leben gerufen. Diese hätten damals auch eine Kapelle bauen können. Immerhin gibt es für die knapp 10.000 Einwohner des Viertels bis heute kein eigenes Kirchengebäude, doch ihre pastorale Option war klar: die Jugend! Immerhin sind in Tumaco mehr als 50 Prozent der Bevölkerung unter 20 Jahre alt. Es brauchte also einen robusten, unkomplizierten Ort der Begegnung, wo man sich ausprobieren, organisieren und kreativ die Zeit vertreiben kann, wo man miteinander ins Gespräch kommt, die Lage der Nation diskutiert und zusammen einen befreienden Glauben lebt. Sonntags findet hier nach dem Erstkommunionunterricht der Gemeindegottesdienst statt. Doch von Montag bis Samstag sind im Centro Afro die Jugendlichen die Protagonisten.
Inzwischen gibt es eine große kraftvolle Tanzgruppe, eine kleine Gemeindebibliothek, eine Zirkusgruppe mit Stelzenakrobaten, jonglierenden Clowns und Feuerspuckern, eine Kindergruppe, die Jugendgruppe mit dem ambitionierten Namen „Jugendliche, die die Welt mit Liebe verändern“ und natürlich die lautstarken Hip-Hopper. Sie treten bei Friedensdemos auf, singen am Internationalen Tag der Menschenrechte und am Weltfrauentag, gehen in Schulen und haben inzwischen auch ihr erstes Album veröffentlicht. Ihre Lieder rufen zum Widerstand auf gegen Gewalt und Korruption, Umweltverschmutzung und Ausgrenzung, wollen aber auch die Schönheiten der Region bekannt machen und den schlechten Ruf von Tumaco etwas geraderücken.
Und auch über den Heiligen Daniel Comboni haben sie ein Lied getextet. Immerhin hat er sein Leben für Afrika gegeben und einen Orden gegründet, der hier in Tumaco so überzeugende und für sie erfahrbare Arbeit an der Seite der afrokolumbianischen Bevölkerung leistet, dass er ein Lied mit HipHop-Rhythmen verdient hat.
„Danke für Dein Vermächtnis“, heißt es da in einer Strophe an Daniel Comboni gerichtet, „ich weiß, dass es nicht einfach ist, aber Tumaco ist mein Zuhause und dafür will ich mich einsetzen.“ Und das ist kein bloßes Lippenbekenntnis der zierlichen Sängerin Neisy. Seit Jahren ist sie nicht nur Hip-Hopperin, sondern auch Katechetin, Jugendgruppenleiterin, Mitglied im Pfarrgemeinderat und meine wichtigste Mitstreiterin in der Leitung des Centro Afro. Sogar über die Grenzen Tumacos hinweg repräsentiert sie inzwischen diese moderne, offene und transformierende Jugendarbeit. Im letzten Jahr hat die Bischofskonferenz sie sogar als Vertreterin Kolumbiens zur Jugend-Vorsynode in den Vatikan entsandt.
So ist das Centro Afro ein ganz besonderer Ort des solidarischen Miteinanders und tägliche Anlaufstelle für unzählige Kinder und Jugendliche. So manche bezeichnen es als ihr zweites Zuhause, und auch ich fühle mich hier wie in einer Familie – eine echte Herzensangelegenheit! Leider ist es bisher das einzige Jugendzentrum im Umkreis von 300 Kilometern. Möglichst viele Nachahmer auf staatlicher wie kirchlicher Seite sind also unbedingt wünschenswert!
Von Ulrike Purrer
Die Theologin Ulrike Purrer promovierte an der Universität Leipzig über Kirche und Frieden. Seit 2012 lebt sie als Fachkraft der Schweizer Entwicklungsorganisation COMUNDO in Kolumbien. Dort leitet sie ein katholisches Jugendzentrum und unterstützt die Jugendabteilung der Bischofskonferenz in ihrer Bildungsarbeit.