Dass man sich diesen kirchlichen Feiertagen nähert, merkt man in Bolivien vor allem daran, dass auf der Straße kein Brot mehr verkauft wird – jedenfalls nicht die üblichen Brötchen (pancito oder maraqueta). Dafür machen sich viele Familien in den Tagen vor dem 1. November daran in eigener Herstellung Teigwaren zu produzieren.
Außerdem bauen viele Bolivianer für ihre Angehörigen, die im Vorjahr verstorben sind, Altäre. Dafür werden Zuckerrohr und Zwiebeln gekauft. Der Altar wird mit einem Bild des Verstorbenen, Ringelblumen, Früchten und Brot geschmückt. Die Nachbarschaft betet an den Altären und wird dafür mit guaguas de pan beschenkt. Hierbei handelt sich um verzierte Brotpüppchen. Ich habe bei meinem Streifzug aber auch Brot in Form von Lamas und Rädern entdeckt. Mitunter beten auch Fremde für den Verstorbenen und sammeln so im Laufe des Tages große Mengen an Lebensmitteln. Auch vor öffentlichen Einrichtungen wie der Polizei stehen im Übrigen solche Altäre, um an verstorbene Bedienstete zu erinnern.
Auf dem Friedhof herrscht an Allerheiligen und Allerseelen viel Betrieb. Am Grab der Verstorbenen wird am 1. November ab 12 Uhr getrunken und gegessen. Nach dem Volksglauben kehren die Seelen für 24 Stunden in ihre Heimat zu den Hinterbliebenen zurück. Die Friedhöfe werden am Tag der Toten überrannt und verwandeln sich förmlich in Rummelplätze: Die Kinder spielen Fußball, wer musiziert, rückt mit einer Kapelle an, manche bestellen sogar Mariachis und generationenübergreifend sitzen alle vor den Gräbern und picknicken. Eigentlich viel schöner als der stille, steife Friedhofsbesuch in Deutschland Anfang November. Ganz La Paz ist auf den Beinen. Ich musste über eine halbe Stunde anstehen, um den cementerio general an Allerseelen betreten zu können.
Was von außen wie Friedhofsmauern aussieht, sind in Wirklichkeit die Rückseiten der Grabwände. Auf mehreren Etagen werden die Särge in Grabfächer eingeschoben – ähnlich der Gepäckaufbewahrung an Bahnhöfen. An Allerheiligen konnte ich sehen, wie Grabnischen für Verstorbene schön gemacht bzw. frisch verputzt wurden. Viele klettern dafür auf Leitern, die auf dem ganzen Friedhofsgelände stehen. Die Leute putzen emsig die Fenster und dekorieren die Sarg-Schließfächer wie Schaufenster, um an die Verstorbenen zu erinnern: Mit einem Foto oder Gegenständen, die der Person etwas bedeutet haben: Das Lieblingsbier, das eigene Auto (als Miniatur), der Computer oder das Fußballteam.
Außerdem verwandelt sich der Friedhof von Jahr zu Jahr durch immer neue Graffitis zu einem Freiluftmuseum und wird damit auch zum Anziehungspunkt für Touristen. In den Gemälden, die gespickt sind mit Symbolen, zeigt sich das Zusammenwirken von autochthonen Bräuchen und christlichen Vorstellungen einmal mehr.
Von Esther Henning
Esther Henning unterstützt und berät als Friedensfachkraft des Internationalen Christlichen Friedensdienstes Eirene die Partnerorganisation FOCAPACI in El Alto, Bolivien. FOCAPACI gestaltet partizipative Dialogprozesse mit gesellschaftlichen Gruppen, um die Gewalt zwischen ihnen zu überwinden und gerechte Verhältnisse zu schaffen.
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